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Politik: Er fühlte Geschichte

Heute vor zehn Jahren starb Willy Brandt – keinen verehrt die deutsche Sozialdemokratie mehr als ihn

Von Stephan-Andreas Casdorff

Sie haben ihn geliebt wie keinen Zweiten, die Sozialdemokraten. Sie haben ihn gehasst wie keinen anderen, die Konservativen. Willy Brandt – heute vor zehn Jahren ist er gestorben, kurz vor seinem 80. Geburtstag. Zum Trauerakt 1992 kamen Tausende Berliner und Hunderte, die in Bonn und der Welt von Amts wegen Staat machten.

Was ist von ihm geblieben? Ein großes Gefühl, das er bis in seine späten Jahre hinein vermitteln konnte: dass er ein Gerechter sei; einer, der Sinn stiften kann; der Zusammenhänge schon schafft, die andere noch nicht einmal sehen. Dafür verehrt ihn die SPD bis heute. Dafür achten ihn längst auch die Konservativen. Bei einem Empfang zu Brandts 75. Geburtstag konnte Richard von Weizsäcker in seinem Amt als Bundespräsident unwidersprochen festhalten: „In Ihrer Person haben Sie die Spannung zwischen Macht und Moral aufgelöst.“

Zehn Wochen vor dem Fall der Mauer sprach Willy Brandt im Bundestag. „Ich will offen meinem Empfinden Ausdruck geben, dass eine Zeit zu Ende geht. Eine Zeit, in der es sich in unserem Verhältnis zum anderen deutschen Staat vor allem darum handelte, durch vielerlei kleine Schritte den Zusammenhalt der getrennten Familien und damit der Nation wahren zu helfen.“ Und er ergänzte: „Staaten auf Rädern wird die künftige europäische Hausordnung nicht vorsehen.“

Ja, so war es, so war er. Brandt fühlte Geschichte. Es war Intuition, die Begabung zur Vision – und seine Fähigkeit, wortmächtig ins Ungefähre zu deuten, die ihn sagen ließ, was sich dann im Nachhinein als Prophezeiung erwies: Die DDR versank, Deutschland wurde eins.

Die „Politik der kleinen Schritte“, des „Wandels durch Annäherung“ – einstmals während der Berliner Jahre ersonnen mit seinem Pressechef Egon Bahr – half auf dem Weg der Deutschen nach dem Krieg. Die Wiederannäherung der Nation an sich selbst konnte beginnen. So erfüllte sich der Traum des deutschen Patrioten, der Brandt immer war. Der er sogar so sehr war, dass er 1990, im großen Jahr der Einheit, an seiner Partei litt. Und an ihrem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, dem Liebling aus der Riege seiner Enkel. In der SPD wiederum zweifelten etliche, auch Enkel, an ihm, der Ikone der Linken. Ein weltweit verehrter Internationalist mit nationalem Bewusstsein, konnte das sein?

Seine Rede auf dem Berliner Parteitag der SPD im Dezember 1989 gab die Antwort. Brandt konnte so sein – und darum vor dem Schöneberger Rathaus den Satz der Sätze zur deutschen Einheit sagen: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Dieser Satz wird ewig bleiben.

Er erhielt den Friedensnobelpreis. Er wagte den Kniefall in Warschau. Er wollte immer mehr Demokratie wagen. „Weil Politik heute nicht überflüssige Ideologie bedeuten kann, sondern notwendigen Realismus zum Inhalt haben muss“, sagte er 1973. Weil „praktische Politik ohne Wertvorstellungen nicht auskommt“. Mit dieser Vorstellung von Politik führte er die SPD in die Mitte der Gesellschaft und knapp an die 46 Prozent.

Macht und Moral in ihrer Spannung in einer Person – es passt zu diesem Leben, dass der 3. Oktober der Feiertag der deutschen Einheit ist. An diesem Tag im Jahr 1957 wurde Willy Brandt Berlins Regierender Bürgermeister.

Ein Sozialdemokrat wie kein Zweiter.

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