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Politik: Erbe gesucht

Von Matthias Schlegel

Es soll Leute gegeben haben, die waren enttäuscht, wenn sie bei der StasiUnterlagenbehörde einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt hatten, und dann gab es nichts über sie. Eine Akte zu haben, erschien vielen als Ritterschlag zum Verfolgten des DDR-Regimes. Als Zeugnis über die unbefleckte Empfängnis der bundesdeutschen Staatsbürgerschaft. Abgesehen davon, dass solcherlei unangemessene Eitelkeiten die Leiden der tatsächlichen Opfer verhöhnten, weist dieses Empfinden auf das merkwürdige Klima hin, das die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit über nahezu anderthalb Jahrzehnte begleitete.

Als mit der Besetzung der Berliner Stasi-Zentrale vor 15 Jahren das Treiben des DDR-Geheimdienstes endgültig gestoppt wurde, war sehr bald klar, dass der Umgang mit der Aktenhinterlassenschaft eine der größten Herausforderungen für das zusammenwachsende Deutschland werden würde. Von der Dimension her umfassender als geahnt, vom Inhalt her zwischen Banalität und Radikalität schwankend, schien dem Stasi-Erbe eine Sprengkraft innezuwohnen, die den inneren Frieden nicht nur im Ostteil des geeinten Vaterlandes bedrohte. Unter dem Druck vor allem der Bürgerrechtler legte die letzte DDR-Volkskammer den Grundstein dafür, dass ein gesetzlicher Rahmen für den Umgang mit den Akten geschaffen wurde. Und dass sich eine eigens eingerichtete Behörde der Verwaltung und Aufarbeitung des Bestandes annahm.

Was hatte diese Behörde mit ihrer Aktenpraxis seither nicht alles auszuhalten an Vorhaltungen und Unterstellungen. Doch im Resümee bleiben das Marginalien. Denn die Frage nach der Alternative zu der praktizierten Verfahrensweise hat bislang niemand überzeugend beantwortet. „Wer Versöhnung will, kommt an der Wahrheit nicht vorbei“, sagt Behördenchefin Marianne Birthler gelegentlich. In der Tat: Dass jeder, der sich darauf einließ, mit Hilfe der Akten dem langen Schatten der Ungewissheiten enteilen konnte, war ein befreiendes Erlebnis für hunderttausende Menschen.

Mittlerweile hat der Nachlass seine Sprengkraft weitgehend eingebüßt. Prompt scheint die Politik das Interesse an dem vermeintlich erloschenen Vulkan verloren zu haben. Anzeichen dafür sind das Geschiebe um die politische Zuständigkeit für die Akten oder die Laschheit in der Frage der Wiederherstellung der Aktenschnipsel. Solches Verhalten ist dem Gegenstand gegenüber sträflich unangemessen und des Andenkens an die friedliche Revolution unwürdig. Jetzt, da es darum geht, ein neues Kapitel der 180 Aktenkilometer sorgfältig vorzubereiten, nämlich ihre Einordnung in den zeitgeschichtlichen Gesamtbestand der DDR- Überlieferungen, ist die Politik in besonderer Weise gefragt.

Gewiss, das ist eine Aufgabe für die Zukunft. Noch gehen jährlich 94 000 Anträge auf Akteneinsicht ein. Weil das so ist, muss sich die Politik jetzt klar hinter die Birthler-Behörde stellen, damit diese ihren Auftrag in den nächsten Jahren ohne Unsicherheiten und Pressionen weiterführen kann. Aber für etwa Mitte des nächsten Jahrzehnts sollten schon bald die Weichen gestellt werden. Dann gehören die Akten unter das Dach des Bundesarchivs, betreut von einer Stiftung – mit einem Kurator an der Spitze, der ebenso angesehen wie unabhängig ist. Vielleicht findet sich für diese Aufgabe ein ehemaliger Bundespräsident. Es wäre ein Zeichen, das diesem unermesslichen Fundus über den Alltag in der DDR angemessen wäre.

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