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Politik: Erhards Erbe gibt’s nur ganz

Von Ursula Weidenfeld

Den beschaulichen Friedhof hoch über dem Tegernsee hatte in der vergangenen Woche wohl kaum jemand im Blick. Vermutlich aber hat es ordentlich rumort in Ludwig Erhards Grab. Die beiden Volksparteien haben sich der Ikone der sozialen Marktwirtschaft mit einer Vehemenz bemächtigt, als gelte es, den früheren Wirtschaftsminister und Kanzler zur Auferstehung und zum Wiedereintritt in die Bundesregierung zu überreden. SPDChef Müntefering, Bundeskanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement riefen die SPD zur Hüterin der sozialen Marktwirtschaft aus. Die CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin Angela Merkel beeilte sich, den Dicken mit der Zigarre zum Kronzeugen für das Programm zu gewinnen, das die CDU dem Land zumuten will.

Aber welches? Auf dem Feld der Sozial- und Wirtschaftspolitik kracht es in der Union. Sie schwankt zwischen Wahlversprechen und Ehrlichkeit, zwischen dem Wunsch, ein klares Mandat für radikale Reformen zu bekommen und der Sehnsucht danach, dass sie vielleicht doch noch nicht nötig sind. Angela Merkel erfährt in diesen Tage, dass sie es kaum leichter haben wird als Gerhard Schröder. Die CDU hat bisher keine klare Linie zu den großen Themen der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik.

Merkel sieht sich in der Tradition Erhards. Nicht, weil er den Westdeutschen Mark und Markt brachte, sondern die Grundlagen für ein neues Verständnis von Freiheit gelegt habe. Wenn sie den Westdeutschen etwas verübelt, dann die Sorglosigkeit, mit der sie das verspielt haben. Nur wird es Merkel kaum gelingen, ihre Partei bis zur Wahl auf diese Linie zu bringen. Wenn sie aber als Kanzlerin in den ersten hundert Tagen „durchregieren“ will, wie sie das in Aussicht gestellt hat, ist es mit ein bisschen Gefummel am Kündigungsschutz und ein paar betrieblichen Bündnissen für Arbeit nicht getan. Damit bringt man zwar viele gegen sich auf, aber sicher nicht den Arbeitsmarkt in Bewegung. Bei den dicken Brocken hingegen – Gesundheit, Pflege, Rente und Steuern – flüchtet sich die CDU-Vorsitzende in Allgemeinplätze, Widersprüchlichkeiten und Verharmlosungen: Die Krankenversicherung für Kinder soll der Staat übernehmen. Ja, aber das ist nicht alles, oder? Bei der Steuerreform soll es um Vereinfachung und nicht in erster Linie um Tarifsenkungen gehen. Und was konkret soll dann vereinfacht werden?

Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass eine neue Bundesregierung ein paar Entscheidungen fällen muss, die keinen großen Beifall hervorrufen werden. Um eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit zum Beispiel wird niemand herumkommen, der die Rentenversicherung wenigstens mittelfristig stabilisieren will. Ähnlich ist es in der Krankenversicherung: Jede Regierung wird hier weitere Risiken auf private Schultern legen müssen. Bei der Pflegeversicherung ist eine Grundsatzentscheidung fällig – auch das wird vielen nicht passen. Und das Streichen von Steuervergünstigungen betrifft dann eben auch Pendlerpauschale und Eigenheimförderung.

Das zu planen, anzukündigen und zu beschließen, macht keinen Spaß. Vermutlich wird sich auch kein Wähler gern für einen solchen Weg entscheiden. Den Segen Ludwig Erhards dafür aber hätte jede Regierung. Der hat 1949 den einzigen Generalstreik in der Geschichte der Republik aushalten müssen. Er richtete sich gegen die soziale Marktwirtschaft.

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