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Politik: Es ist Zeit für Kinder

Von Harald Martenstein

Es gibt da etwas, das ich nicht verstehe. Seit es Schule gibt, wird über die Größe der Schulklassen diskutiert. Nein, nicht diskutiert. Im Grunde ist die Sache klar. Je größer die Klasse, desto schlechter für die Kinder. Je individueller die Betreuung, desto besser. Das stimmt doch, oder? Drei oder vier Kinder, ein Lehrer – dies wäre sehr wahrscheinlich das Ideal, es ist natürlich unbezahlbar.

Bei den Babys sehen es viele Leute fast genau umgekehrt. Viele Leute sagen, dass es Babys nicht das Geringste ausmacht, wenn man sie, ein paar Monate nach der Geburt, fast den ganzen Tag in eine große Krabbelgruppe steckt, wo sie von Profis betreut werden. Dabei sind doch die ersten zwei, drei Jahre angeblich die allerwichtigsten. Zehnjährige sollten so individuell wie möglich betreut werden, Einjährige aber nicht – wie kommt das? Ich glaube, es hängt mit der Interessenlage der Erwachsenen zusammen. Bei den Zehnjährigen fordern Eltern und Lehrer kleine Klassen, weil es für sie selbst keine Nachteile bringt, bezahlen soll es ja der Staat. Bei den Einjährigen möchten viele Eltern eben möglichst schnell zurück in den Beruf. Man glaubt fast immer an diejenige Wahrheit, die für die eigenen Interessen am vorteilhaftesten ist.

Ich bin wirklich kein Reaktionär. Oder doch? Es leuchtet mir einfach nicht ein, dass ein Baby bei fremden Leuten, die es für Geld tun, besser aufgehoben sein soll als bei Eltern, die es lieben, zu denen es das berühmte Urvertrauen aufbauen kann und die es individuell fördern. Ich will Betreuung nicht grundsätzlich schlecht machen, beileibe nicht, aber Eltern, die Zeit haben und diese Zeit gerne geben, sind besser als Betreuung. Ich bin für flexible Arbeitszeiten, ich bin dafür, dass auch die Männer zu Hause bleiben und sich kümmern, ich möchte, dass man eine Zeit lang Hausfrau oder Hausmann sein darf, ohne dafür schräg angeschaut zu werden. Aber es führt trotz allem kein Weg daran vorbei, dass Kinder – sofern man nicht zu den Reichen gehört – Einschränkungen bedeuten und dass man für Kinder auch ein paar Opfer bringen muss.

Opfer! Ein schreckliches, reaktionäres Wort. Niemand möchte das. Alle möchten Spaß haben, die ganze Zeit. Kinder sind etwas für Romantiker, die nicht rechnen können. Sie werden niemals eine gewinnbringende Investition sein, auch bei noch so guter staatlicher Förderung. Deswegen gibt es so wenige. Es liegt an der Mentalität, die der Kapitalismus hervorbringt.

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