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Politik: Europa sucht seinen Meister

Von Sven Goldmann

Ach Europa, du bist so schwer zu vermitteln. Wer weiß schon, wen oder was er am Sonntag wählen soll und warum. Könnte man die Wahlen zum EUParlament doch koppeln an die Fernsehquoten, die von heute an bei der Fußball-Europameisterschaft zu erwarten sind! So bleibt der Politik nur der Verweis auf den gefühlten Erfolg des Projekts Europa: Drei Wochen lang führen 16 Nationen in Portugal vor, wie einig sich die alte Welt mittlerweile ist. Da ist zum Beispiel Lettland, das sich zeitgleich zum EU-Beitritt erstmals für die EM qualifizierte. Oder das einstige Jugoslawien, das regelmäßig einen anderen seiner Nachfolgestaaten zur EM schickt, diesmal Kroatien.

Das ist schön gedacht und funktioniert sogar, aber anders, als es die EU vermitteln will. Auf den ersten Blick erscheint Europa nirgendwo nationalistischer als im Fußball. Die Schönheit des Spiels, die Dramatik des Augenblicks, sie heben den europäischen Fraktionszwang auf und erlauben nationale Parteinahme. Doch es ist nicht der belastete Nationalismus vergangener Zeiten, sondern ein heiterer, beschwingter. Für jeden Holländer ist das Spiel am Dienstag gegen Deutschland ein nationales Großereignis, aber niemand käme auf die Idee, im Falle einer Niederlage die Bundesautobahn zu blockieren. Beim Fußball darf man, anders als bei der Diskussion über den Euro oder das Schengener Abkommen, national denken, ohne ein schlechter Europäer zu sein.

Deutschland profitiert von dieser Entwicklung. Aus nachvollziehbaren Gründen tut sich kein anderes Land so schwer damit, stolz auf seine Identität zu sein. Allein im Sport trauen sich die Deutschen, so etwas wie Nationalstolz zu zeigen. Selten waren sie ihren Nachbarn so sympathisch wie bei ihrer Niederlage im WM-Finale von 1966 gegen England, die sie trotz eines offensichtlich illegalen Gegentores klaglos hinnahmen. Ein Glanzstück europäischer Integrationspolitik.

Es ist seit jeher eine fixe Idee der Politik, sportliche Erfolge als Signal zu nutzen. In Deutschland wird man daran dieser Tage immer wieder erinnert, da sich zum 50.Mal der Sieg bei der Weltmeisterschaft in der Schweiz jährt. Das Wunder von Bern reicherte den wirtschaftlichen Aufschwung in der Bundesrepublik mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein an. Ohne das strategische Genie des Sepp Herberger wären die Segnungen des Marshallplans unvollendet geblieben.

Auch 50 Jahre später stehen in Deutschland materieller und gefühlter Wohlstand in keinem angemessenen Verhältnis zueinander. Mit wehleidigen Bürgern aber ist kein Aufschwung zu machen. Ein Triumph in Portugal, hoffen Regierende und Regierte, könnte zum Befreiungsschlag werden für die von Selbstzweifeln geplagte Nation. Irakkrieg hin, Jahrhundertflut her – ist es eine zu verwegene These, wenn man die Ursache für den rot-grünen Wahlsieg 2002 auch im zweiten Platz bei der Fußball-WM sieht?

Die Politik, die europäische wie die nationale, profitiert mehr vom Fußball als umgekehrt. In Portugal leiden die deutschen Spieler unter einem Erwartungsdruck, der allenfalls durch den Mythos von Bern zu erklären ist. Die Mannschaft des Jahrgangs 2004 zählt zu den schwächeren der letzten Jahrzehnte, die Last der nationalen Selbstfindung ist zu schwer für sie. Was also können wir erwarten? Deutschland hat seinen Platz in einem friedlich streitenden Europa gefunden. Wenn seine Fußballspieler ihren Teil zur Schönheit der Europameisterschaft beitragen, haben sie ihre Mission erfüllt. Hier endet die Ratio und beginnt der Mythos. Wie vor 50 Jahren in Bern.

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