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Politik: „Europa zu führen, erfordert auch Humor“

Kommissionschef Barroso über die deutsche EU-Ratspräsidentschaft – und moderne Lyrik

Kommissionschef Barroso über die deutsche EURatspräsidentschaft – und moderne Lyrik Herr Präsident, als Sie im Oktober hier in Berlin an einer Kabinettssitzung teilnahmen, zeigten Sie sich nachher beeindruckt von der lockeren, humorvollen Stimmung der Runde. Wie kam das?

Erst einmal war ich dankbar für diese Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und angetan von der angenehmen Stimmung. Es gibt ja bestimmte Vorstellungen über die Deutschen, wonach sie sehr hierarchisch denken und immer furchtbar ernsthaft ans Werk gehen. Deshalb war ich wirklich beeindruckt, wie locker die Atmosphäre in dieser Koalitionsregierung war und wie viele witzige Bemerkungen gemacht wurden.

Könnte diese Stimmung für die Kanzlerin auch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 nützlich sein?

Die kann sie in der Tat gut gebrauchen. Die Europäische Union sechs Monate lang zu leiten, ist wirklich eine anspruchsvolle, schwierige Aufgabe. Glauben Sie mir: Viel Motivation, viel Energie und manchmal auch Humor sind die einzigen Voraussetzungen, mit denen man diese Aufgabe erfüllen kann.

Die Bundesregierung hat manchmal fast ein bisschen Furcht, ob sie die riesigen Erwartungen erfüllen kann, die ihrer Präsidentschaft entgegengebracht werden. Sind die Erwartungen an Deutschland zu hoch?

Es stimmt, dass manche Erwartungen sehr hochgeschraubt sind. Aber gleichzeitig sage ich unseren deutschen Freunden, dass sie das Gute darin sehen sollen. Darin drückt sich doch das Vertrauen in die Fähigkeit Deutschlands aus, Europa zu führen. Zudem hat Deutschland nun einmal eine ganz zentrale Position in unserem Projekt. Ich sage immer: Die Präsidentschaft ist sehr wichtig. Aber sie kann alleine gar nichts bewegen. Denn das kann sie nur gemeinsam mit den anderen Mitgliedsländern und der Kommission.

Die Bundesregierung will den Prozess der Europäischen Verfassung voranbringen. Was sind da Ihre Erwartungen?

Ich bin überzeugt, dass wir dieses Problem lösen müssen. Wir brauchen die Grundelemente der Europäischen Verfassung. Wir müssen den Entscheidungsweg in der EU effizienter machen. Wir brauchen ein demokratisches System mit klarer Verantwortung. Schließlich brauchen wir mehr Kohärenz, das betrifft vor allem die europäische Außenpolitik. Schon ganz pragmatische Gründe sprechen also dafür.

Und wie könnte der Verfassungsprozess tatsächlich vorankommen?

Ich erwarte mir viel von der Berliner Erklärung, die wir während der deutschen Präsidentschaft im März verabschieden werden. Es war mein Vorschlag, dass diese Erklärung zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge in Berlin vorgestellt wird. Berlin ist für mich das Symbol des geeinigten Europa. Wir sind stolz auf den Gründungsvertrag der EU, der in Rom unterschrieben wurde. Aber nun geht es um die Zukunft. Berlin ist da mehr als ein Symbol, es ist die Werkstatt der Erweiterung. Die Berliner Erklärung ist für alle Mitgliedstaaten eine Gelegenheit, ihre Verpflichtung gegenüber den gemeinsamen Prinzipien und Werten zu erneuern. Es ist das erste Mal, dass die neuen EU-Mitgliedstaaten nicht nur Verträge der alten Gemeinschaft übernehmen, sondern aktiv an einem stärkeren Europa mitwirken. Für mich als Kommissionspräsident ist es sehr wichtig, wie weit die Mitgliedstaaten da gehen wollen. Ich hoffe, dass wir am Ende der deutschen Präsidentschaft im Juni einen gemeinsamen Plan erarbeitet haben, wie es mit der Verfassung weitergeht. Dann könnten wir einen politischen Rahmen haben, wie wir das Verfassungsproblem lösen.

Manche sagen, bis 2009 sollte das Problem gelöst sein. Ist das zu ehrgeizig?

Vielleicht ist das ehrgeizig, aber wir brauchen Ehrgeiz. Denn eine neue EU-Kommission soll schon unter den neuen Regeln zusammentreten und ihre Arbeit aufnehmen. Wenn ich sage, vor einer erneuten Erweiterung der EU brauchen wir eine Reform der Entscheidungsfindung, dann will ich auch das politische Momentum nutzen: Wir können nicht ständig neue Mitglieder aufnehmen, so lange wir nicht ein Entscheidungssystem gefunden haben, das effizienter und demokratischer ist.

Die Bundesregierung hat ja schon Schwerpunkte ihrer Präsidentschaft benannt. Sie will nicht nur den Verfassungsprozess voranbringen, sondern sich um die sozialen Auswirkungen von EU-Entscheidungen kümmern, Fortschritte bei der Lösung der Probleme im Nahen und Mittleren Osten erreichen, die Energieversorgung Europas sicherer und transparenter machen und gleichzeitig gegen den Klimawandel vorgehen. Ist der Verfassungsprozess von diesen Themen die größten Herausforderung?

Wir haben gemeinsam über die Schwerpunkte der deutschen Präsidentschaft beraten, ich bin dankbar für den Geist der Zusammenarbeit. Alle diese Themen sind wichtig. Ich warne davor, das große Thema Verfassung gegen die anderen auszuspielen. Gerade durch konkrete Ergebnisse schaffen wir Vertrauen der europäischen Bürger in das globale Projekt Europa. Es ist sehr wichtig, dass wir zeigen, dass wir eine schlankere Verwaltung anstreben und damit gegen den schlechten Ruf Europas als bürokratischen Apparat kämpfen. Damit würden wir Europa den Bürgern wieder näher bringen.

Ein heikles Thema ist gegenwärtig das Verhältnis von EU und Türkei. Die finnische Ratspräsidentschaft verlangt von Ankara in der Zypernfrage die Erfüllung von Bedingungen. Gibt es eine Chance, dass dieser Konflikt vor der deutschen Präsidentschaft gelöst wird?

Ich bin sehr besorgt über die Entwicklung. Die Türkei hat bislang ihre Verpflichtungen aus dem Ankara-Protokoll nicht erfüllt, wie das die EU-Staaten 2005 verlangt haben. Wenn die Türkei ihre Verpflichtungen nicht erfüllt, wird das Auswirkungen auf den gesamten Verhandlungsprozess um den EU-Beitritt des Landes haben. Welche Konsequenzen das im Einzelnen sein werden, kann ich heute noch nicht sagen. Aber schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit und Klarheit werden wir solche Konsequenzen beschließen, falls die Türkei ihren Verpflichtungen nicht nachkommt.

Sie betonen stets, dass die EU Ergebnisse für die Bürger bringen muss. Zu diesen Ergebnissen soll auch der Bürokratieabbau gehören, den Sie gemeinsam mit Industriekommissar Günter Verheugen betreiben. Ursprünglich war dabei geplant, in diesem Jahr 54 EU-Gesetze zu vereinfachen. Werden Sie dieses Ziel bis Jahresende erreichen?

Wir werden das nicht ganz erreichen. Wir hoffen, dass wir bis Jahresende auf 50 EU-Gesetze kommen. Seien wir ehrlich: Das ist nicht perfekt, aber es ist ein gutes Resultat. Wir tun viel beim Bürokratieabbau, aber wir können mehr machen. Und bei dieser Linie bleiben wir. Die europäischen Institutionen werden ihre administrativen Lasten zurückfahren. Das wird das Leben der Bürger und das Wirtschaften einfacher machen. Die eigentlichen Verursacher von mehr Bürokratie sind aber vielfach die nationalen Regierungen. Deshalb ist es unfair, immer Brüssel für diesen Missstand verantwortlich zu machen. Nur gemeinsam können wir einen Weg finden, die bürokratischen Lasten zu mindern, die vor allem kleine und mittlere Unternehmen behindern.

Sie haben diese Woche in einer Versammlung der EU-Beamten deren Leistung gelobt. War es eine weise Entscheidung von Vizepräsident Günter Verheugen, seinen Kampf gegen die EU-Bürokratie mit einer Attacke auf die EU-Beamten einzuleiten?

Günter Verheugen hat doch schon erklärt, worum es ihm mit seinen Bemerkungen wirklich geht. Er schlägt einen Paradigmenwechsel vor, bei dem er meine volle Unterstützung hat. Bis vor kurzem dachten viele Leute doch folgendermaßen: Dass man ein guter Europäer ist, kann man am besten unter Beweis stellen, indem man neue Regulierungen vorschlägt. Dies ist aber nicht mehr der Fall. Wir können gute Europäer sein, indem wir manchmal einfachere Regeln finden oder auch ausgediente Regeln ganz streichen. Wir haben sehr gutes Personal in der Europäischen Kommission. Viel von dem, was wir erreicht haben, war nur möglich wegen der großen Professionalität und des Einsatzes der EU-Beamten. Sie brauchen den Vergleich mit keiner anderen Verwaltung auf der ganzen Welt zu scheuen.

Im kommenden Jahr will die EU-Kommission 43 EU-Gesetze vereinfachen oder ganz streichen. Dabei geht es unter anderem um Gesetze im Bereich der Gesundheit, der Spielwarenherstellung und Kosmetika. Glauben Sie, dass das Europaparlament da mitmachen wird?

Schauen Sie, man muss die Schwierigkeit der ganzen Übung verstehen. In der Theorie ist fast jeder dafür, dass es weniger unnütze Regeln gibt. Die meisten Abgeordneten stehen der Frage, wie hoch das Maß an Regulierung sein soll, unverkrampft gegenüber. Natürlich gibt es immer Probleme, wenn Regulierungen eine bestimmte Gegend oder Gruppe betreffen, dann heißt es: Bürokratieabbau ja – aber bitte nicht bei mir anfangen.

Am kommenden Freitag findet der EU-Russland-Gipfel statt. Der Gipfel wird überschattet von einem Streit zwischen Warschau und Moskau, bei dem es um polnische Lebensmittelexporte nach Russland geht. Moskau hat für einige Lebensmittel einen Importstopp verhängt. Was tut die EU-Kommission, um diesen Streit zu lösen?

Die Kommission steht im direkten Kontakt mit den polnischen und russischen Behörden, um das Problem zu lösen. Ich hoffe, dass wir in dieser Angelegenheit Fortschritte erzielen werden. Wir müssen in dieser Sache natürlich auch unsere Solidarität gegenüber Polen als EU-Mitgliedsland zeigen.

Sie sind dafür bekannt, dass Sie Ihren Mitarbeitern empfehlen, nachts Klassiker zu lesen, weil das die Kreativität steigere. Welche Lektüre empfehlen Sie uns?

Ja, ich halte es für sehr wichtig, die klassische römische und griechische Literatur zu lesen. Ich bin ein bisschen darüber beunruhigt, dass unsere utilitaristischen Gesellschaften das vergessen. Entscheidende Quellen all dessen, was uns in Europa ausmacht, liegen in Griechenland und in Rom. In meinem Heimatland Portugal zur Zeit der Diktatur mussten die Studenten Latein oder Griechisch lernen. Ich lernte darüber hinaus fünf Jahre lang Französisch, drei Jahre lang Englisch und zwei Jahre lang Deutsch. Wer Jura studierte, musste damals Deutsch lernen. Das, wie gesagt, war noch in vordemokratischer Zeit. Im modernen, demokratischen Portugal lernen die Menschen nur noch eine Sprache, Englisch. Das ist für mich kein Fortschritt, das ist ein Rückschritt.

Und ganz konkret, welche Bücher empfehlen Sie?

Meinen Mitarbeitern empfehle ich nicht nur die klassische Literatur, sondern auch Lyrik, moderne Lyrik. Wenn man den ganzen Tag nur gut präparierte, aber sehr technische Dossiers liest, macht das kreativ. Von den deutschen Autoren schätze ich Peter Sloterdijk sehr, er ist einer meiner Lieblingsschriftsteller. Zuletzt habe ich sein Buch „Le Palais de Cristal“ gelesen, im Original heißt es „Im Weltinnenraum des Kapitals“. Was er über Europa sagt, ist sehr anregend und sehr klug. Ich halte Sloterdijk für einen der großen Denker unserer Zeit.

Das Gespräch führten Albrecht Meier und Hans Monath. Das Foto machte Mike Wolff.

DER MENSCH

José Manuel Barroso wurde am 23. März 1956 in Lissabon geboren. Barroso und seine Frau Margarida Sousa Uva haben drei Söhne.

DER EUROPÄER

Seit November 2004 steht Barroso an der Spitze der Brüsseler EU-Kommission. Er kam damals vor allem deshalb zum Zuge, weil die Staats- und Regierungschefs einen Personalvorschlag des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und des französischen Präsidenten Jacques Chirac abgelehnt hatten. Beide hätten lieber den liberalen belgischen Regierungschef Guy Verhofstadt zum Kommissionschef gemacht.

DER POLITIKER

Barroso gehört der portugiesischen Partido Social Democrata (PSD) an. Auch wenn der Name anderes vermuten lässt, handelt es sich dabei um eine Mitte-Rechts-Partei. Als junger Mann stand Barroso weit auf der politischen Linken: Während der portugiesischen Nelkenrevolution des Jahres 1974 gehörte er einer maoistischen Splittergruppe an.

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