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Wolfgang Daschner und Magnus Gäfgen

© dpa

Fall Gäfgen: Am Tabu gerührt

Frankfurts Polizeivizepräsident Daschner drohte ihm, bis er gestand: Der Fall des Kindermörders Magnus Gäfgen hat Deutschland in die Folterdebatte gestürzt. Am Montag urteilt Europas Menschenrechtsgerichtshof.

Er ist der prominenteste Mörder der Bundesrepublik, und mit seinem Namen und dem seines Opfers verbindet sich der hierzulande umstrittenste Kriminalfall des neuen Jahrtausends. Magnus Gäfgen, heute 33 Jahre alt, hatte im September 2002 den elfjährigen Frankfurter Bankierssohn Jakob von Metzler in seine Wohnung gelockt und erstickt. Die Leiche versteckte er an einem See. Gäfgen bekam dafür lebenslang, doch weil ihm die Polizei während des Verhörs mit Folter drohte, könnte sein Fall jetzt neu aufgerollt werden. An diesem Montag entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, ob Polizei und deutsche Justiz die Menschenrechte des Mörders verletzt haben. Wenn ja, kann alles passieren – bis zu einem Freispruch.

Gäfgen stammt aus kleinen Verhältnissen, er kannte sein Opfer von Jugendfreizeiten und neidete ihm dessen familiären Wohlstand. Er selbst studierte Jura und träumte von Karriere. Weil es ihm nicht schnell genug ging, plante er, von Metzler zu entführen. Bis heute bestreitet Gäfgen, er habe dessen Tod gewollt. Er erpresste Lösegeld von den Eltern; bei der Übergabe beobachtete ihn die Polizei, verfolgte ihn, hoffend, er würde sie zu dem Kind führen. Stattdessen buchte Gäfgen eine Reise und bestellte einen Mercedes. Die Polizei nahm ihn fest.

Im Gewahrsam schwieg Gäfgen oder log. Die Beamten verzweifelten. Sie fürchteten um Jakobs Leben, errechneten, dass er verdursten würde. Da ordnete Frankfurts damaliger Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner an, Gäfgen mit Folter zu drohen. Der führte die Polizisten zur Leiche. Daschner fertigte einen Vermerk, um sein Handeln zu dokumentieren: Der Festgenommene sei „nach vorheriger Androhung, unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen“, hieß es.

Nachdem der Tagesspiegel den Vermerk öffentlich gemacht hatte, entbrannte eine in Deutschland bisher einzigartige Debatte, die den sicherheitspolitischen Diskurs bis heute mitprägt: Wie weit darf der Staat gehen, um seine Bürger zu schützen? Den Ton gab der damalige Vorsitzende des Richterbunds, Geert Mackenroth, vor, indem er gegenüber dem Tagesspiegel Daschner lobte und erklärte, es seien Fälle vorstellbar, in denen Folter erlaubt sei – etwa zur Verhinderung von Terror. Mackenroth musste zurücktreten, doch der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Günter Hirsch, auch Justizministerin Brigitte Zypries sahen einen „rechtfertigenden Notstand“ für Daschner zumindest nicht ausgeschlossen.

Seit Daschner wegen Nötigung verurteilt wurde, sind solche Meinungen wieder tabuisiert, wirken aber fort, etwa im Streit um das Luftsicherheitsgesetz. Zuletzt musste der Würzburger Jurist Horst Dreier auf den Weg ins Präsidentenamt des Bundesverfassungsgerichts verzichten, weil er Relativierendes zu Folter und Menschenwürde angemerkt hatte.

Gäfgens Verurteilung wurde in allen Instanzen bestätigt – vor allem, weil er sein abgepresstes Geständnis freiwillig wiederholt hat. Bekommt er jetzt in Straßburg Recht, wird das dann zuständige Landgericht Darmstadt den Fall wieder aufnehmen, wenn das Urteil auf der Menschenrechtsverletzung beruht. So steht es im Gesetz. Darüber und über die Frage, welche Beweise dann noch verwertet werden dürfen, wird nicht nur in Juristenzirkeln gestritten werden. Gäfgen, der im Gefängnis sein Jura-Examen abgelegt hat, schreibt weiter Justizgeschichte. Ob man es will oder nicht.

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