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Politik: Freiheit ohne Frieden

Von Christoph von Marschall

Was für ein großer Schritt für die arabische Welt. Und welch ein kleiner auf dem Weg zum Frieden im Irak: Nach den Palästinensern wählt erstmals ein großer arabischer Staat demokratisch. Kein Regime hat zensiert, wer überhaupt antreten darf. Die Listen haben sich aus der Gesellschaft heraus gebildet, deshalb sind es so unübersehbar viele. Es ist schwer erträglich, dass dieser hoffnungsvolle Moment eine so bedrückende Vorgeschichte hat – den Krieg unter falschen Begründungen und ohne UNMandat, die Fehler der Besatzungspolitik samt ihren blutigen Folgen, die Folterskandale, die alltäglichen mörderischen Anschläge, jedenfalls in vier der 18 Provinzen.

Wahr bleibt aber auch: In den Jahrzehnten seit der Entkolonisierung hat kein arabischer Staat von sich aus den Weg zur Demokratie gefunden. Es bedurfte der Intervention von außen, um die Gewaltherrschaft Saddam Husseins zu beenden. Die Freudensprünge der Iraker zum Beispiel in Berlin, die nun erstmals über die Zukunft ihres Landes entscheiden dürfen, sind ansteckend. Die Entschlossenheit der Bürger in dem besetzten Land, trotz Lebensgefahr wählen zu gehen, nötigt Respekt ab. Selbst wenn es am Ende nicht 80 Prozent sind, sondern 50 oder 60, wäre das höchst respektabel im Vergleich zu manchen alten Demokratien, auch den 59 Prozent bei der jüngsten Bush-Wahl.

Ja, dieser Sonntag ist ein historischer Moment. Und dennoch darf man skeptisch sein, ob das die entscheidende Wende im Nachkriegsirak wird. Die ist der Welt nämlich schon zu oft versprochen worden. Erst sollte das offizielle Kriegsende am 1. Mai 2003 diesen Rang haben, dann die Ergreifung des Diktators, die Machtübergabe an eine irakische Interimsverwaltung, die Erstürmung der Widerstandshochburg Falludscha …So viele Wendepunkte ohne eine Wende zum Frieden. Der Weg dorthin bemisst sich nicht nach Monaten, vermutlich muss man fünf bis zehn Jahre veranschlagen, wenn es denn gelingt. Welches Ausmaß wird der Boykott der Sunniten haben, wie bindet man ihre Vertreter so in die Verfassungsgebung und Regierungsbildung ein, dass die Moderaten gewonnen werden, wann überhaupt können irakische Polizei und Armee Sicherheit garantieren? Wahrscheinlich ist es genau die falsche Forderung, von Bush und Blair einen festen Abzugstermin zu verlangen. Ihre Truppen müssen bleiben, solange die Lage es erfordert, und das dauert wohl länger, als ihnen lieb ist.

Mitleidslos hat die Realität im Irak zerpflückt, was die einen an Hoffnungen und die anderen an Ängsten an den Regime change knüpften. Die Furcht, dass ein leichter Sieg die Versuchung stärke, auch in Syrien, Iran, Nordkorea oder im Sudan mörderische Regime zu stürzen, und niemand der Supermacht Einhalt gebieten kann, wurde gedämpft. Aber um welchen Preis: Wer mag noch darauf setzen, dass ein einiger Westen den Unterdrückten mit festem Willen und Augenmaß relativ rasch helfen kann? Mit den massiven Problemen im Irak ist beides gestorben, die Vision eines allmächtigen Amerika und die Hoffnung auf die Verbreitung von Freiheit und Demokratie.

Der Wahltag stellt auch die Deutschen auf eine schwere Probe. Wie verträgt sich das Misstrauen gegen Bushs USA mit dem Wunsch, dass dieser Sonntag ein Erfolg wird, der auf ganz Arabien ausstrahlt? Welche Maßstäbe gelten für eine Wahl unter so schwierigen Umständen, ohne dass wir unsere Ansprüche verraten? Demokratie und Freiheit sind nicht westliche Grundrechte. Sie gelten universell.

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