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Gegen Zwang und Unterdrückung. Gedenkstein für die am 7.Februar 2005 ermordete Hatun Sürücü.

© Lukas Schulze/p-a/dpa

Gedenken an Hatun Sürücü: Die Deutungshoheit des Patriarchats

Vor 15 Jahren wurde Hatun Sürücü im Namen der „Ehre“ erschossen. Dennoch werden in Deutschland weiterhin Tausende von Frauen bedroht. Was ist zu tun?

Ein deutsches Handyvideo im Internet. Ein junger Mann, die Hände blutig, filmt sich selbst. Neben ihm sein Sohn, etwa zwölf Jahre alt. Auf Arabisch verkündet der Mann: „Ich bin vorhin zu meiner Frau gegangen, um mit ihr zu sprechen und unsere Probleme zu klären, um unsere Beziehung zu verbessern. Aber sie hat mich rausgeworfen, und dann habe ich sie mit dem Messer erstochen.“

Er fügt an: „Ich bin nicht kriminell! Aber wenn deine Frau dir das Leben verdirbt, hast du sie aufzuhalten. Das ist die Nachricht an alle Frauen, die ihre Männer betrügen oder es versuchen.“ Er beschimpft seine tote Frau, und auch der Sohn rechtfertigt die Tat seines Vaters. Ein anderes deutsches Handyvideo. Da liegt eine Frau auf einem Bett, erkennbar hochschwanger, die Mundpartie rot von Blut. Offenbar wurde sie mit Rasierklingen verletzt. Außerdem hat man ihr mehrfach in die Brust gestochen. Auf Arabisch fleht sie: „Lass mich leben! Bitte, für unseren Sohn!“

Daraufhin erklärt ein Mann, der sich als ihr Bruder zu erkennen gibt: „Guckt, wie ich hier stehe. Ich genieße es, ihr beim Sterben zuzusehen, dabei rauche ich noch eine Zigarette.“ Das Mädchen ist eine 17-jährige Palästinenserin. Ihr Bruder und ihr Ehemann, ein 34-jähriger Syrer, wollen sie umbringen, denn sie ist schwanger von einem anderen Mann und will sich trennen. Ihr Verhalten ist eine „Schande“ in den Augen der beiden Männer.

Der Bruder sendet das Video an den Liebhaber mit der Drohung: „Du Hurensohn kommst auch noch dran!“ Die beiden Täter sind in Haft. Die junge Frau überlebte. Im Frühjahr 2018 gehörten diese beiden Extremfälle zu den meistdiskutierten Themen unter Flüchtlingen in Deutschland.

Angst vor Anerkennungsverlust

Sie werfen ein Licht auf die Angst von Männern, ihre Vormachtstellung gegenüber Frauen zu verlieren, Angst vor dem Verlust der Anerkennung durch die Gruppe, Furcht, als Mann nicht in der Lage zu sein, Frau und Familie zu kontrollieren und zu schützen. In die Ängste mischt sich die Befürchtung, im Asylland durch neue Gesetze, ein liberales Bildungssystem und zunehmende Akkulturation die eigene Identität zu verlieren. Jede einzelne Tat ist Anlass genug, Ursachen zu benennen, auch wenn die Wahrheit schockierend ist. Sie lautet: Emanzipation und das Streben nach persönlicher Freiheit können für Frauen aus „traditionellem Umfeld“ auch in demokratischen Staaten lebensgefährlich sein. Und es sind fast immer die eigenen Familien, die das Todesurteil fällen. Ehrenmorde sind Ausnahmen. Es existiert keine Statistik, und doch ist es wichtig, wahrzunehmen, was da geschieht und in welchem Kontext. So sehen wir bei „Ehrenmorden“ und Zwangsheiraten nur die Spitze eines Eisberges.

Deutungshoheit des Patriarchats

Das traditionelle Patriarchat kennt viele Situationen, die als „Beschmutzung der Familienehre“ verstanden werden, und viele Mittel, dies zu vermeiden. Frauen sollen Partner nicht frei wählen, den Mann heiraten, den die Familie aussucht.

Mädchen sollen sich züchtig kleiden, nicht zum Schwimmunterricht oder auf Schulausflüge gehen, nicht unbegleitet aus dem Haus gehen, keine eigene Wohnung haben, keine Discos, Partys, Konzerte besuchen, von Vater, Onkel oder Bruder Erlaubnis für eigene Schritte einholen, etwa wenn sie arbeiten gehen wollen. All das widerspricht dem Grundgesetz und schränkt die Selbstbestimmung ein.
Wer auf Familienehre basierende Strukturen als Hindernis gelingender Integration erkennt, trifft oft auf Widerstand: Das seien Traditionen, Teil der Identität von Gruppen, Kritik daran sei rassistisch und intolerant, man dürfe Migranten nicht vorschreiben, wie sie zu leben hätten. Heuchlerisch begeistert hingegen kann der rechte Rand reagieren: Da sähe man es ja, diese Leute passten nicht hierher.

Bitte kein Kulturrelativismus

Solange die Debatte in der Mitte der bürgerlichen Milieus weiter verweigert wird, wird weiter gelitten. Wer verharmlost und kulturrelativistisch argumentiert, der macht sich mitschuldig. Ebenso, wer ideologisch begründete Verbrechen aus „Ehre“ strafrechtlich neutral einordnet, oder die verordnete Unmündigkeit der Frauen als „normale“ kulturelle Erscheinung abtut.

Ebenso unhaltbar sind die Versuche migrantischer Lobbygruppen, Ehrenmorde unter Migranten mit sogenannten „Familiendramen“ unter Deutschen gleichzusetzen. Dieser Ansatz will selbst in der Berichterstattung über Ehrenmorde Belege für Diskriminierung sehen. Welten liegen zwischen Beziehungstaten, die es überall gibt, auch unter Migranten, und den Verbrechen „im Namen der Ehre“. Wenn ein Thomas oder Ralf seine Frau erschlägt, weil sie sich trennen will, handelt er in der Regel allein. Auf Unterstützung seiner Familie kann er kaum zählen.

Demokratien vertragen moralische Vielfalt

In Demokratien wird eine Geschiedene selten als Schande wahrgenommen. Ermittler dürften nicht auf Hinweise stoßen, wonach Vater oder Brüder den Täter angestiftet und ihm Waffen besorgt haben. Schüler aus einem demokratischen Umfeld werden eine solche Tat kaum gutheißen oder die Täter zu Helden stilisieren, wie Lehrer das nach dem Mord an Hatun Sürücü vielfach unter migrantischen Jungen – und Mädchen! – erlebt haben.

Kaum jemand würde behaupten, dass Glaube oder Tradition eine Mordtat vorschreiben. Solche Argumente höre ich jedoch häufig bei meiner Aufklärungsarbeit mit migrantische Jugendlichen und Flüchtlingen. Solange der Körper einer Frau nicht ihr gehört, sondern der Familie, solange Liebe eine Sünde und Jungfräulichkeit wichtiger als das Leben der Frau ist, werden diese Denkmuster stillschweigend oder aktiv weiter unterstützt. Änderungen sind in großen Teilen patriarchalischer Communities nicht erwünscht.

Blockaden gegen die Würde

Mein Eindruck ist leider, dass ein nicht kleiner Teil der Migranten und Flüchtlinge in Deutschland die Blockaden gegen die Würde des Menschen noch nicht verabschieden will. Ohne die Erziehungsmethoden der betroffenen Milieus zu ändern, bleibt die Demokratisierung der Familien eine Utopie.

Gewaltlegitimierende Konzepte von Männlichkeit und eine auf Gruppenehre angelegte Identität führen dazu, dass Männer meinen, selbst auf kleine Zurückweisungen oder Überforderungen mit physischer oder verbaler Gewalt zu reagieren. Frauen, die sich über den Willen des Oberhauptes hinwegsetzen, erscheinen als direkte Bedrohung des patriarchalen Selbstkonzepts.

Wie lebendig solche Vorstellungen sind, habe ich erlebt, als mich muslimische Freunde davor warnten, meine deutsche Partnerin zu heiraten. So eine Frau werde einen irgendwann verlassen wollen, und dann sei keine Autorität zur Stelle, kein Bruder oder Vater, der sie daran hindere.

Alternativen vorleben

Um den Teufelskreis der Unterdrückung aufzulösen, braucht es Vorbilder. Männer, die bewusst eine andere Geschlechterrolle präsentieren. Männer, die Gewalt ablehnen, ohne zu fürchten, dadurch Kraft und Männlichkeit einzubüßen. Männer, die Gleichaltrigen Alternativen vorleben, sie ermutigen, aus mittelalterlich wirkenden Vorstellungen auszubrechen und die Sklaverei der Ehre zu beenden.

All dies möchten wir auch in den Projekten unserer Organisation für migrantische Jugendliche und Geflüchtete erreichen. Viel mehr adäquate Präventionsarbeit, flächendeckend, mit klaren Standards und koordiniert sind nötig. Sonst bleiben alle, die wegsehen, ungewollt Komplizen. Der Autor ist Diplompsychologe und Geschäftsführer der Mind Prevention, einer Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention.

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