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Politik: Gerhard Schröder im Interview: "Ich muss das nur psychisch aushalten"

Auf Deutschlands Straßen wird für den Frieden demonstriert. Was ist Ihre Botschaft an die Protestierenden?

Auf Deutschlands Straßen wird für den Frieden demonstriert. Was ist Ihre Botschaft an die Protestierenden?

Friedliche Demonstrationen respektiere ich, denn auch sie sind Ausdruck jener Zivilgesellschaft, die wir glücklicherweise haben. Eine Regierung, die militärische Aktionen anordnet, steht in einer ganz besonderen Begründungspflicht. Aber ich müsste den Demonstranten auch sagen, dass wir diesen Konflikt nicht gewollt haben, also auch nicht das Austragen mit diesen Mitteln. Wenden Sie sich also an diejenigen, die den Konflikt heraufbeschworen haben!

Die Leute haben aber nicht nur vor dem Aggressor Angst. Sie fürchten auch die Gegenschläge und die dann wohl unvermeidliche Spirale der Gewalt.

Von uns geht keine Bedrohung aus, keine Auseinandersetzung mit einer Religion oder einer Zivilisation. Das Recht auf Selbstverteidigung dagegen ist etwas selbstverständliches. Ich würde den Demonstranten sagen: Sie haben sich immer auf die Vereinten Nationen berufen. Ich auch. Aber wer das tut, muss auch alle entsprechenden Beschlüsse zur Kenntnis nehmen.

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Wenn wir ein Patentrezept hätten, würden wir es auch anwenden. Es gibt keines. Der Krieg ist privatisiert worden: Unbekannte, Gesichts- oder auch Geschichtslose gehen gegen unschuldige Menschen in einem anderen Land vor.

Nicht einmal Nordirland oder das Baskenland können befriedet werden.

Und warum? Weil diese Konflikte lokalisiert werden konnten. Dieser Terrorismus ist dadurch nicht als weltweites Problem ins Bewusstsein gedrungen. Dagegen gibt es jetzt erstmals eine globale Antwort in abgestufter Qualität, getragen von einer weltweiten Anti-Terror-Koalition.

Eine Koalition mit zum Teil grausigen Regimen.

Es ist eine Zusammenarbeit mit denen, die den Kampf gegen den Terrorismus mit uns führen wollen.

Gerade haben Sie im Bundestag eine neue Verantwortlichkeit der Deutschen angemahnt, auf Risiken hingewiesen, die dieses Land nun eingehen müsse. Wohin soll das führen: Verfolgt Deutschland jetzt eigene machtpolitische Interessen?

Es kann sein, dass es solche Ängste gibt. Aber sie sind unbegründet. Es geht ja gerade nicht um Machtinteressen, die mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden sollen. An so etwas würde ich mich auch nie beteiligen. Das ist ja der Unterschied zur Kanonenboot-Politik - das ist unhistorischer Unsinn. Diese Art des Erkämpfens eines Platzes an der Sonne, wie das ja wohl mal geheißen hat, ist wirklich überwunden. An Amerika hat manch einer ja gelegentlich einen Hang zum Isolationismus kritisiert. Nun soll man die Vereinigten Staaten nicht kritisieren, wenn genau dies nicht Inhalt ihrer Politik ist.

Partizipiert Deutschland erstmals in der Nachkriegsgeschichte an einem militärischen Konflikt, ohne dabei Auschwitz beschwören zu müssen?

Die Begründung ist eine andere. Erstens geht es um die Freundschaft und Solidarität mit einem Land, ohne das wir unsere Freiheit und Einheit nicht hätten erlangen können. Mindestens so wichtig ist aber auch, dass es um unsere eigene Zukunft geht. Denn die Form, in der wir Deutsche leben wollen, ist mit angegriffen worden.

Der Kalte Krieg sei unwiderruflich vorbei, sagen Sie. Es brauche einen Mentalitätswandel. Ist Deutschland da, wo Sie es gern hätten?

Nein, sicher noch nicht. Ich lege Wert darauf, dass wir - nicht weil wir es wollten, sondern weil wir es mussten - in den letzten drei Jahren unserer Regierungszeit, es sind ja erst drei Jahre, in der Veränderung der Außen- und Sicherheitspolitik eine gerade Linie vollzogen haben. Da war schon der Kosovo-Krieg eine Zäsur. Dann Mazedonien, eine innerparteilich eher überflüssige Auseinandersetzung, weil das im Grunde eine Polizeiaktion gewesen ist, die jedoch nur von der Bundeswehr durchgeführt werden konnte.

Aber selbst in der SPD gab es da Gegenstimmen, also Bedenken gegen den Mentalitätswandel.

Es ist misslich, dass wir da im eigenen Lager Widerstand hatten. Das war wohl eine Reminiszenz an die Kosovo-Entscheidung. Dann gab es für Mazedonien die Operation "Amber Fox", die ja gefährlicher ist als "Essential Harvest", aber das war ja schon eine BeinaheSelbstverständlichkeit für die Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Über all diese Maßnahmen definiert sich eine Linie. Nur fand das, was wir auf dem Balkan tun, stets unter dem Dach Europa statt. Jetzt geht es um die Erkenntnis, dass man mit den Partnern auch über Europa hinaus politisch gestaltungsfähig sein muss und dass das Militärische ein Teil dessen ist, wenn auch als Ultima Ratio. Ich bin nicht unfroh darüber, dass ich gegenüber dieser Gesellschaft nun wirklich Begründungszwänge habe und dass mir dies mehr Schwierigkeiten macht, als man sie im Alltagsgeschäft vielleicht gerne hätte. So ist es besser.

Sind denn Ihre Erkenntnisse mehrheitsfähig in Deutschland?

Das alles ist noch nicht vollständig gelernt, am ehesten wohl in der politischen und ökonomischen Klasse akzeptiert. Bei den Intellektuellen ist es differenziert, wie es nicht anders sein kann, auch das ist kein unglücklicher Umstand fürs Land. Und im Volk? Erstaunlich. Fast zwei Drittel sagen, das muss wohl sein. Die Skepsis beginnt bei konkreten Maßnahmen. Auch das ist nachvollziehbar. Deshalb sage ich ja auch, lassen wir eine Debatte, die so tut, als würden wir drängeln. Die Skepsis im Volk muss die Regierung ernst nehmen. Die Begründungszwänge sind gut - für die Gesellschaft und für die Regierung.

Spüren Sie Anti-Amerikanismus?

Nein, gelegentlich lese ich Andeutungen, aber nie mit der Wucht der früheren Jahrzehnte.

Bekommen Sie, anders als viele Redaktionen in diesen Wochen, keine Briefe des Inhalts, dass die Amerikaner selbst schuld daran sind, dass sie so viel Hass auf sich ziehen?

Solche Briefe habe ich nicht bekommen. Anders als in Vietnam oder während des Golfkrieges wird schon gesehen, dass hier Amerika etwas angetan worden ist. Deshalb wird die Wucht des Protests geringer sein als jemals zuvor. Selbst die kritischsten Geister sagen: Es gibt wohl das Recht auf Gegenwehr. Auch die Friedensbewegung spürt, dass die Situation anders ist als in früheren Jahren und Jahrzehnten.

Die PDS bestreitet das.

Was dort gesagt wird, ist sehr opportunis-tisch. Gysi schafft es, unter dem Teppich noch Purzelbäume zu schlagen. Aber selbst da ist kein platter Anti-Amerikanismus zu sehen. Selbst da wird das Recht auf Gegenwehr nicht grundsätzlich bestritten, sondern an so viele Bedingungen geknüpft, dass es wirkungslos würde. Dies ist eher ein Ausdruck von Unsicherheit.

Sie sprechen von einer ziemlich geraden Linie deutscher Außenpolitik. Hätten Sie sich diesen Verlauf jemals träumen lassen?

Natürlich nicht. Niemandem von uns, weder dem Außenminister noch mir, wäre anfangs eingefallen, dass dies ein wesentlicher Kern unserer politischen Arbeit sein würde. Wir haben uns das auch nicht gewünscht.

Angesichts einer solchen Zäsur in der Politik und im Leben eines Politikers - braucht es da nicht ein wenig Zeit, um das Geschehen zu reflektieren, bevor es ans Entscheiden geht?

Doch. Auch ich brauchte Zeit, um einiges zu verarbeiten. Entscheidende Mitarbeiter von mir sind auch Freunde. Das zählt. Meine Frau hat zwei Jahre in New York gelebt. Sie hat mir wieder und wieder erzählt, wie sehr diese Stadt nicht nur Metropole des Kapitals, sondern auch Fluchtpunkt für Hunderttausende Europäer war, ein Symbol der Freiheit also. Solche Gespräche sind wichtig.

Suchen Sie sich auch Rat außerhalb Ihrer Familie und des politschen Umfelds?

Ich habe in diesem Raum lange mit Günter Grass gesprochen, der sicher eher zu den Kritikern gehört. Wohltuend war, dass er auch meinen Standpunkt verstanden hat, obwohl er ihn nicht in dieser Konsequenz teilt.

Man sieht es Ihnen auch an, wie sehr diese Wochen an Ihren Kräften zehren. Wie regenerieren Sie sich?

Ich habe das große Glück, dass ich, wenn ich am Samstagnachmittag nach Hause komme, so etwas tun kann wie - sagen wir mal: die Seele baumeln lassen. Sonntags geht es ja oft schon wieder weiter. Dass meine Familie in Hannover geblieben ist, hat sich als Vorteil für mich entpuppt. Wenigstens ein paar Stunden kann ich mich da erholen. Vielleicht ein wenig Tennis spielen.

Haben Sie in dieser Krise Gewissheiten verloren?

Nicht Gewissheiten, aber lieb gewordene Einstellungen. Nämlich die, dass man in der Außenpolitik den militärischen Aspekt doch lieber vernachlässigen solle.

Woran zweifeln Sie in diesen Tagen?

Nicht an der Richtigkeit der Entscheidung zur umfassenden Solidarität. Und ich bin mir auch sicher, dass wir das durchhalten, auch wenn sich die sehr breite Zustimmung mit der Zeit relativieren sollte. Es bleibt aber die Gewissheit, dass ich die Entscheidungen, die möglicherweise getroffen werden müssen und die dann auch getroffen werden, nur psychisch aushalten muss. Das eigentliche Risiko tragen diejenigen, die aufgrund einer solchen politischen Entscheidung intervenieren müssen, also die Soldaten. Darüber mache ich mir sehr viele Gedanken.

Warum sagen Sie den Bürgern nicht, wie der militärische Beitrag aussehen wird?

Das kann ich nicht machen, weil jede Konkretisierung ein Stück Preisgabe dessen wäre, was man selbst mit den Verbündeten vorhat, worauf sich andere dann einstellen können. Je mehr man redet, desto weniger partnerfähig wird man. Das ist ja der Grund, weshalb mich gelegentliche Indiskretionen kräftig ärgern.

Jene von Rudolf Scharping, der vor der Zeit ausplauderte, dass die Nato den Bündnisfall erklären würde? Brauchen Sie nicht einen richtigen Verteidigungsminister?

Ich habe einen richtigen Verteidigungsminister. Und den stelle ich nicht nur nicht in Frage, ich habe sogar die Absicht, dazu beizutragen, dass er beim Parteitag der SPD als stellvertretender Vorsitzender mit einem guten Ergebnis wiedergewählt wird - so wie sich das gehört.

Uneingeschränkte Solidarität?

(lacht)-... ist weder gefordert, noch gibt es einen Grund, eine solche Formel zu benutzen. Denn die wird mit Sicherheit von Ihnen missinterpretiert.

Wenn Sie uns schon nicht verraten, was aus Scharping wird - verraten Sie uns, was die Bundeswehr wird leisten müssen?

Ich möchte entscheiden, wenn ich weiß, was der Angegriffene an Beistand erwartet. Abstrakte Diskussionen sehen so aus, als ob wir uns unbedingt aufdrängen wollten. Das will ich nicht. Ich bin bereit, das Notwendige zu tun, auch im Militärischen, aber ich muss nicht unsere Fähigkeiten auf dem Marktplatz anbieten.

Müssen Sie in diesen Tagen zur Beruhigung so tun, als wüssten Sie mehr, als Sie wirklich wissen?

Nein, ich muss eine sorgfältige, sinnvolle Balance halten zwischen drei Dingen: fairer Information über reale Gefährdungspotentziale, klare Benennung von dem, was potentziell kommen kann, und Beruhigung.

Werden Sie selbst denn von den USA fair informiert?

Ja. Natürlich fällen die letzten Entscheidungen über operative Details jene, die auch die Konsequenzen bisher fast allein tragen, also die Amerikaner. Es ist doch klar, dass das Maß der Beteiligung an den Operationen auch das Maß der Information im Detail bestimmen muss.

Im Golfkrieg gab es weniger Burden-Sharing als Cost-Sharing. Diesmal auch?

Nein, das ist aus guten Gründen kein Thema. Damals haben wir gesagt, wir würden uns nicht an den Aktionen, aber an den Kosten beteiligen. Das ist diesmal anders. Deshalb hat das Prinzip zu gelten, dass jeder seinen eigenen Beitrag finanziert.

Ist der 11. September nun auch daran schuld, dass Sie das Ziel der 3,5 Millionen Arbeitslosen nicht erreichen?

Nun warten wir mal ab. Der richtige Zeitpunkt, die Zahlen zu prüfen, ist Anfang des kommenden Jahres. Es ist klar, dass wir auf dieses Thema zurückkommen werden.

War es richtig, die Tabak- und Versicherungssteuer zu erhöhen?

Ja, uneingeschränkt.

Stehen Sie auch dazu, dass zwar Zigaretten teurer werden, nicht aber Zigarren?

(lacht) Auf meine persönliche Vorliebe geht diese Differenzierung nicht zurück.

Schließen Sie weitere Steuererhöhungen aus?

Ja.

Für den Rest dieser Legislaturperiode?

Ja.

In einer Woche wählt Berlin: Kommt die PDS nach ihrer Dresdner Friedenserklärung noch als Koalitionspartner in Frage?

Ich habe keine Wünsche zu äußern, jedenfalls nicht öffentlich. Die Entscheidung liegt bei der Berliner SPD. Sie wird die Wahl gewinnen. Erst nach dem 21. Oktober geht es um die Konstellationen, und dann werde ich meinen Rat intern geben.

Haben Sie an diesem Wochenende beim Parteitag der CSU in Nürnberg Ihren Herausforderer gesehen?

Ich tue gut daran, wenn ich getrost abwarte, bis die Kollegen von CDU und CSU sich einrichten. Zur Union möchte ich nur sagen: Irgendwo stand, ich hätte gesagt, die Art und Weise, wie mit Frau Merkel umgegangen wird, stelle alles in den Schatten, was wir in der SPD an Machtkämpfen erlebt haben. Das habe ich zwar so nie gesagt, aber richtig ist das trotzdem.

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