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China: Der Mao im Kopf

Er war Revolutionär. Er wurde im Westen kultisch verehrt. Er war Diktator. Umstritten ist Zedongs historische Bedeutung. Und immer im Wandel.

War Mao Zedongs oft brutale Herrschaft der unvermeidliche Preis für Chinas Wiederaufstieg, oder wäre dieser so oder so gekommen und ohne Maos Einfluss wesentlich unblutiger verlaufen? Hat Mao China mit seinen Kampagnen immer wieder in die Sackgasse geführt, oder durchbrachen sie erst die Mauern, in denen Tradition und Unterwürfigkeit die chinesische Gesellschaft gefangen hielten? Es wird noch dauern, bis das historische Urteil über Mao aus diesen groben Gegensätzen herausfindet. So oder so: Maos persönliche Geschichte ist mit der Bildungsgeschichte der Volksrepublik China so eng verflochten, wie weder Stalin noch Hitler mit der Geschichte Deutschlands und Russlands verknüpft sind, Diktatoren neben die Mao im Vergleich der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts immer wieder gestellt wird. Die politische Pointe, die erfolgreiche Wiedererrichtung des ältesten Staates der Welt unter der Führung eines Mannes, der in der chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts immer auch sich selbst neu erfand, geht mit diesen Gleichsetzungen verloren.

Mao Zedong ist längst auch zu einer literarischen Figur geworden. In Yan Liankes gerade erschienenem Roman „Dem Volke dienen“ zitiert die Frau des Kommandeurs dessen Ordonnanz mit eben diesem Spruch zum Liebeskampf. Die feinsinnige Studie über Statusschranken und wie sie unterlaufen werden, darf wegen vulgärer und obszöner Darstellungen sowie schwerer gedanklichen Irrtümer in China nicht verbreitet werden. Im neuesten Thriller von Henning Mankell „Der Chinese“ tobt im Vorfeld der Olympischen Spiele der Kampf zweier Linien. Wieder einmal steht China am Scheideweg. Wie kann sich die Partei bei der wachsenden Kluft zwischen neuen Reichen und armen Bauern, die in sie Städte strömen, gegen drohende Aufstände wappnen, die auch bei einem Einsatz der Armee nur im Chaos enden können? Sollte die Partei da nicht den Ausweg im Kolonialismus suchen, einem wohlmeinenden natürlich? Wie die klassischen Imperialisten am Ende des 19. Jahrhunderts die Lösung der sozialen Frage in der Kolonisierung Afrikas finden wollten, so gibt es nach diesem Roman in China Kräfte, die einen solchen Plan jetzt verfolgen.

Die Guten glauben, sich in ihrem Widerstand auf das Vermächtnis Maos stützen zu können. Ihre Exponentinnen im Kampf gegen korrupte Kapitalisten und Parteikader sind zwei frühere Rotgardistinnen: „... wir beide wissen, dass die Gefahr von innen droht. Früher war Maos Ehefrau der Maulwurf der neuen Oberklasse, obwohl sie mehr als alle anderen mit der roten Fahne wedelte. Heute gibt es andere, die sich in der Partei verstecken, aber nichts lieber wollen, als gegen sie zu arbeiten und die Stabilität im Lande durch eine kapitalistische Freiheit zu ersetzen, die irgendwann nicht mehr zu kontrollieren ist“, meint die eine.

Die beiden Frauen werden die Auseinandersetzung nicht überleben. Ihre schwedischen Partnerinnen in dem international verwickelten Kriminalfall sind zwei Ex-Maoistinnen. Die eine sucht vor der gemeinsamen Chinareise ihr „altes, abgegriffenes Exemplar von Maos Zitatenbuch“ heraus. Den Erwerb hat sie auf den 9. April 1966 datiert. Damals wurde sie von den politischen Stürmen erfasst: „Nach der Zeit bei den Rebellen versteckte ich mich. Es gelang mir nie, mir Rechenschaft darüber abzulegen, warum ich mich von etwas mitreißen ließ, was fast wie eine religiöse Sekte war. Karin ging zur Linkspartei. Ich selbst wanderte zu Amnesty, und jetzt bin ich ziellos.“

Mankell war 1968 zwanzig Jahre alt und ist froh, in dieser Zeit aufgewachsen zu sein. Aber an den „lächerlichen Dingen“, für die sich Brigitta eingesetzt hat, sei er nie beteiligt gewesen, versichert er in einem Interview. Wenn sein Buch also Mao verteidigt, wie er sagt, will er doch mit den europäischen Maoisten von damals nichts zu tun haben.

Für sie hat natürlich auch Helmut Schmidt nichts übrig, wenn er Mao seine Achtung zollt. „Er war ein Mensch, den man nicht vergisst“, lautet der erste Satz Schmidts in „Nachbar China“, einem Buch, das Gespräche mit Frank Sieren dokumentiert. Die Charakterisierung geht weiter: „Außerordentlich impulsiv. Charismatisch, sehr begabt. Aber rücksichtslos und stur. Halbgebildet, mit guter Intuition. Er hat mich in eine Diskussion über Clausewitz und Marx verwickelt und wusste in beiden Fällen, wovon er redete. Allerdings haben sich die großen Kampagnen, die er angezettelt hat, nicht aus einem klaren Verstand entwickelt. Mao verfügte über eine ähnliche Mischung aus Rücksichtslosigkeit und Charisma wie Tito, der jedoch stärker vernunftgesteuert war. Mao war klug, aber Vernunft war seine Stärke nicht.“

Schmidt hatte Mao 1975 getroffen. Er meint in diesem Gespräch, China habe vorher in der deutschen Politik im Grunde keine Rolle gespielt. „Kanzler Kiesinger hat 1969 in einer Wahlkampf-Bundestagsdebatte warnend ‚China, China, China‘ gerufen, aber keiner weiß genau, warum.“ Willy Brandt habe schon eine Einladung gehabt, habe es aber nicht mehr geschafft. „Es hat ihn wohl auch nicht so interessiert wie mich. Im Mai 1974 ist er zurückgetreten, und ich wurde Bundeskanzler. Im Oktober 1975 bin ich dann schon nach China aufgebrochen.“ Was Brandts Interesse betrifft: Im Register von Klaus Harpprechts „Im Kanzleramt. Tagebuch der Jahre mit Willy Brandt“ findet sich kein einziger Eintrag zu Mao oder Tschou Enlai. Schmidt selber, so erzählt er, habe zunächst weniger die Person, sondern die Tatsache interessiert, „dass Mao dafür gesorgt hat, dass das von inneren Kämpfen und Kriegen mit den Nachbarn erheblich geschwächte China wieder als selbstbewusste Nation auftrat und damit eine geostrategische Rolle zu spielen begann.“

Dass Schmidt nicht genau wissen will, warum Kiesinger seinerzeit den Ausruf ,China, China, China‘ tätigte, hängt mit seiner Verachtung für die damalige Jugend- und Studentenbewegung zusammen. Die hatte ja Kiesinger zu seinem Auftritt inspiriert. Doch Schmidt meint, es habe gar „keine wirklichen deutschen Maoisten gegeben, sondern nur eingebildete Maoisten. Die wussten gar nichts von Mao.“ Die 68er hätten die Mao-Bibel für eine heilige Schrift gehalten, ohne zu wissen, wer Mao wirklich war. „Die wussten gar nichts von Mao. Und niemand hat damals die Chinesen und Mao Zedong dafür verantwortlich gemacht, dass junge Studenten in Deutschland die Mao-Bibel schwenkten. Das waren zwei Welten.“ Letzteres stimmt. Aber dass die eine von der anderen nur über Fernsehbilder und „Mao- Bibel“ gewusst hätte, ist Unfug. Die vier Bände von Maos „Ausgewählten Werken“ erschienen 1968/69 in rascher Folge auf Deutsch und „Vier philosophische Monographien“ waren seit 1965 in Übersetzung zu haben. Es gab in diesen Jahren so viel Bücher über China wie selbst heute nicht. Und die 68er waren lesehungrig. Es ging ihnen nicht allein um China, sondern mit Maos Spezialität – der Bauernfrage – um die revolutionäre Rolle der Dritten und damit um die Zukunft der ganzen Welt. Kaum noch zu glauben.

In den Zeiten nach Veröffentlichung von Jung Changs und Jon Hallidays Mao- Biografie und der weitgehend kritiklosen Aufnahme dieses Buchs durch die westdeutschen Feuilletons bieten Schmidts Anwürfe an die deutschen Maoisten eine Art Entlastung: Je mehr die eigene Ahnungslosigkeit betont wird, desto mehr können Maos Verbrechen verabsolutiert werden. Je mehr sie verabsolutiert werden, desto glaubhafter ist die eigene Ahnungslosigkeit.

Helmut Schmidt dagegen stellt kühl und schwer bestreitbar gegenüber Frank Sieren fest: „Es gibt keine Nation in der ganzen Welt – nicht die alten Ägypter, nicht die alten Römer, nicht die alten Perser, nicht die Inkas, nicht die Mayas, nicht die Azteken –, deren Geschichte so lange besteht wie die chinesische und sich dann nach hundert Jahren dramatischen Niedergangs und großer Demütigung wieder erholt. Ausgerechnet unter Mao. Das ist in der Weltgeschichte ganz ungewöhnlich, beinahe rätselhaft. Noch dazu bei einem Land ohne gemeinsame Religion – ganz ungewöhnlich.“

In seinem Gespräch mit dem Tagesspiegel vor zwei Monaten meinte er: „Herauszufinden, wieso den Chinesen dieses Wunder gelingt, ist ungeheuer spannend.“ Natürlich kann man, um dieses Wunder zu erklären, nicht als Erstes von Mao absehen oder gar behaupten, ohne ihn wäre alles von allein gekommen. Helmut Schmidt ist eindeutig: Mao sei es gelungen, „den Staat China wieder zu errichten. Wäre ich ein Chinese, so würde auch ich ihn dafür bewundern. Ich bin kein Chinese. Aber dass die Chinesen imperialistisch waren, kann man weiß Gott nicht behaupten.“ Gestützt auf die chinesische Geschichte, könnten die Guten Mankells also vielleicht doch die Oberhand behalten.

Jung Changs und Jon Hallidays Mao- Biografie ist viel besprochen und verkauft worden. Aus ihrer Abstraktion von Herausforderungen, schwierigen Bedingungen und feindlichen Aktionen ergibt sich folgerichtig, dass Mao von Anfang an und durchgängig nur seine eigene, gewaltversessene Machtentfaltung im Sinn hatte und so zum gigantischen Störfaktor der chinesischen Geschichte geworden sei. Das Buch basiert auf contrafaktischen Annahmen, ohne sie offenzulegen. So nebenbei wird das blutige und korrupte Regime Tschiang Kaitscheks verharmlost, und gegenüber Mao nimmt sich sogar die japanische Expansion und Besatzung fast harmlos aus. Es ist das gute Recht Jung Changs, der ehemaligen Rotgardistin, sich von Mao und der Kulturrevolution betrogen zu fühlen. Aber Hass aus Enttäuschung ist kein guter Forschungsleitfaden.

So behält wohl der staatsmännisch abwägende Kissinger gegenüber der nun neu verbohrten früheren Rotgardistin recht. „Dieses Buch ist ein Jammer. Natürlich kann eine überwältigende Anklage formuliert werden. Er war unzweifelhaft verantwortlich für das Leiden und den Tod von Millionen. Aber dieses Buch ist grotesk, weil es einen Mao ohne jegliche Qualitäten darstellt“, meinte er in einem Interview Ende 2005. Kissinger hatte den Nixon-Besuch in Peking von 1972 eingefädelt. Die neue Beziehung zwischen den USA und China war mitentscheidend dafür, dass die Welt schließlich aus der Blockordnung herausfand. Kissinger kommt in seinen dreibändigen Erinnerungen immer wieder auf diesen Besuch und Maos Persönlichkeit zurück, die ihn stark beeindruckte. Er hatte Sinn für Maos Trauma: „Mao bäumte sich gegen die schreckliche Vorstellung, ein Ergebnis seines Sieges könnte das Wiedererstehen der chinesischen Tradition einer alles beherrschenden Klasse von Mandarinen sein … In jedem Jahrzehnt, das verging, nahm der Große Vorsitzende, dem die Kräfte schwanden, eine weitere Säuberung der riesigen aufgeblähten Bürokratenapparate vor, die er zerstörte und wieder aufwachsen sah, weil das Chaos, das er anrichtete, nur noch mehr Bürokraten erforderte, um es wieder unter Kontrolle zu bringen“, schrieb er im dritten Band seiner Erinnerungen. Im ersten Band hatte er eine der wahrscheinlich „monumentalsten Ironien der Geschichte“ darin entdeckt, „dass niemand die inneren Spannungen des Kommunismus besser verstanden hat als die titanische Persönlichkeit, die die chinesische Revolution in Bewegung gesetzt hat. Mao Tse-tung hat den Mut gehabt, sich mit den Folgen dieser Einsicht auseinanderzusetzen.“

Vielleicht entspringt das Dilemma aber der eigenartigen Verknüpfung von Reichserneuerung und Kommunismus, die die russische und noch stärker die chinesische Revolution prägt. Der Marxismus-Leninismus und die kommunistische Partei ermöglichten eine Mobilisierung und Zentralisierung von Macht, wie sie ihre Vorgänger als Reichsregenten nicht zustande gebracht hatten. Doch fesselten die kommunistischen Revolutionäre durch die mit ihrer Herrschaft verbundene Unterdrückung der Fliehkräfte der Privatproduktion und des Marktes die Entfaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft. Das dynamische Element der Modernisierung wurde damit ganz auf Staat und Partei verschoben.

Kulturrevolution und die spätere Freisetzung von Marktkräften versuchten auf entgegengesetzten Wegen die Zementierung von stagnierender Bürokratenherrschaft aufzubrechen und gesellschaftliche Dynamik wieder in Gang zu setzen. Die Kulturrevolution setzt auf die Selbstlosigkeit des Revolutionärs. In der Tradition der Französischen Revolution kann man sie als Appell an den Citoyen verstehen. Die jetzige Politik der KP Chinas setzt mit ihrem „Bereichert euch“ auf den Bourgeois und hofft, die Partei könnte als kollektiver Citoyen die öffentlichen Tugenden verteidigen. Das gewaltige Spannungsverhältnis, das mit der Erneuerung des Reiches selbst entsteht und seinen Zusammenhalt gefährdet, verschiebt sich damit.

Wahrscheinlich ist der Citoyen als politisches, frei und öffentlich agierendes Individuum nicht zu haben, wenn der Bourgeois nicht Gelegenheit hat, sich privatim zu entfalten. Citoyen und Bourgeois sind nicht zwei entgegensetzte und auf verschiedene Personen aufgespaltene Phänotypen, sondern zwei Seiten des Individuums in der Moderne. Aber dieses Individuum entwickelt sich nicht gleichmäßig und organisch. Der Einsatz des neuen chinesischen Experimentes lautet: Hält das Reich so lange zusammen, bis die Verbreitung bourgeoiser Verhaltensweisen nach und nach zum Nährboden der republikanischen Tugenden des Citoyens wird und aus dem Reich ein moderner Staat hervorgeht? Auch das ist ein Weg voller Gefahren. Mankells Thriller, aber auch chinesische Belletristik handelt von ihnen.

Mark Leonard zitiert in „What does China think?“ den Politikwissenschaftler Gan Yang. China müsse aus seinen historischen Erfahrungen heraus eine neue Idee der Modernität entwickeln. Heute könne man in China drei Traditionen erkennen: Eine Tradition sei während der 28-jährigen Reform-Ära ausgebildet worden mit dem ,Vorrang des Marktes‘ und den Konzepten von Freiheit und Rechten. Eine andere Tradition sei in der Ära Mao Zedongs geformt worden. Ihr Hauptzug sei das Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit. Die dritte Tradition sei während der Tausende von Jahren chinesischer Zivilisation entstanden und werde allgemein der konfuzianischen Kultur zugeschrieben. „In der Vergangenheit haben wir uns oft verhalten, als ob diese Traditionen in Konflikt zueinander stünden.“

China hat ehrgeizige Ziele. Den Ansporn findet es in der Suche nach dem Zusammenhalt, der nie als einfach gegeben angesehen werden kann. Für den französischen Philosophen Alain Badiou hätten Maos beide Texte über den Widerspruch ihren Platz in einem Programm für die Agrégation verdient, der Aufnahmeprüfung für Lehrer, seien aber in Frankreich aus allen Buchhandlungen verschwunden. Das ist in Deutschland nicht anders. In China werden sie, so steht zu vermuten, immer wieder ihre Konjunktur haben.

Der Autor war 1968 im Bundesvorstand des SDS. 1973 Mitgründer des maoistischen KBW, 1983 dessen Mitauflöser. 1983 bis 1999 Redakteur der Monatszeitschrift „Kommune“ in Frankfurt. Mai 1999 bis Mai 2007 politischer Berater im Planungsstab des Auswärtigen Amtes.

Joscha Schmierer

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