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Geschichte: Sehnsucht nach Stadt

Herrschaftsadresse, Pennerparadies, Glitzerding: Das Grundstück Ku’damm / Ecke Joachimstaler Straße schreibt Berliner Architekturgeschichte

In den 125 Jahren seiner Geschichte als Großstadtboulevard wurden am Kurfürstendamm Stadtbilder von großer Ausstrahlungskraft geschaffen. Anhand der Entwicklung der Bauparzelle 227, heute bekannt als Neues Ku’damm-Eck, lässt sich das ständige Umformulieren der Stadt besonders gut darstellen. Jeweils im Abstand von etwa 20 Jahren – im Ganzen fünf Mal – neu bebaut, erzählt das Grundstück Architektur- und Stadtgeschichte. Es folgen modellhaft aufeinander: das steinerne Berlin der wilhelminischen Ära, die emphatische Metropolenarchitektur der Weimarer Republik, der zaghafte Neuanfang der Wiederaufbaujahre, die schöne Welt des Shoppings am Ende der Pop-Dekade und das retrospektive Metropolenpathos des wieder vereinten Berlin. Die hier bauenden Architekten fühlten sich in der Mehrzahl herausgefordert, auf die hervorgehobene Lage am Joachimstaler Platz in Sichtweite des Bahnhofs Zoologischer Garten mit zuweilen spektakulären architektonischen Lösungen zu reagieren. Mehr als andernorts am Kurfürstendamm wurde dieses Eckgrundstück zum Testfeld des Visionären.

Das erste, 1887 an der Ecke Joachimstaler Straße / Kurfürstendamm errichtete Gebäude repräsentierte ganz das, was Architekturkritiker um 1900 mit abwertendem Gestus als „Kurfürstendamm-Architektur“ bezeichneten. Das fünfgeschossige „hochherrschaftliche Mietshaus“ wurde äußerlich mit Dekorationsformen aus der europäischen Palastbautradition veredelt und spiegelte somit eine höfisch-aristokratische Kultur vor, die im Kontrast zur mehrheitlich bürgerlichen Herkunft der Bewohner stand: 1897 lebten hier ein Geheimer Regierungsrat, zwei Rentiers, ein Kolonialwarenhändler, ein Schankwirt, ein Kaufmann, ein Agent, ein Fabrikant, ein Schumacher, ein Posamentenhersteller, eine Witwe, ein Baron und ein Hauptmann.

Für die Entwicklung des Grundstücks 227 spielt die Funktion des Kurfürstendamms als Geschäftsstraße von Beginn an eine große Rolle. Schon die ersten Baupläne des Hauses zeigen im Erdgeschoss eine Ladennutzung, wenn auch noch kein volles Ladengeschoss. 1909 schließlich wird das ganze Erdgeschoss kommerziell genutzt. Der Erste Weltkrieg und die nachfolgende Inflationszeit verhindern größere Bautätigkeiten. Veränderungen betreffen lediglich die Außenansicht des Gebäudes, an dem beispielsweise das Fachgeschäft für Sprechapparate und Schallplatten „Parlophon“ 1921 ein Reklameschild anbringen lässt. Das ist erwähnenswert, weil die Baupolizei sogleich den Abbau der Werbung erwirken will: mit dem Verweis auf den herrschaftlichen Charakter des Kurfürstendamms. Die Ladeninhaber argumentieren, dass sich der Kurfürstendamm von der „Luxusstraße“ zur „Hauptgeschäftsader Charlottenburgs“ entwickelt habe.

1924 erwirbt das Leinenhaus Grünfeld mit Stammsitz im schlesischen Landeshut das Haus, um dort eine Repräsentanz einzurichten. Die Berliner Hauptniederlassung befand sich an der Leipziger Straße, im alten Kaufhaus- und Textilviertel der Stadt. Doch den Aufstieg der westlichen City zur „guten Adresse“ des Berliner Einzelhandels konnte die Firma Grünfeld nicht ignorieren. So traditionell patriarchalisch die Unternehmenskultur geartet war, so modern gab sich das Firmenmarketing. Die Produkte der Leinenweberei (Weißwaren und Damenwäsche) wurden mit einem Corporate Design beworben, dessen zentraler Bestandteil das Blau der Flachsblüte (aus Flachs wird Leinen hergestellt) war. Dieses „Grünfeldblau“ kam bei der Gestaltung der Läden, der Verpackungsmaterialien, der Uniformen der Lieferboten und „Hausdiener“ sowie der Geschäftswagen zur Anwendung. Im November 1926 wurde nur eine kleine Zweigniederlassung am Kurfürstendamm eröffnet, in der man „Strümpfe, Taschentücher, Schlüpfer und Hemdhosen“ verkaufte. Ein kostenloser Pendelverkehr mit einem eleganten Buick verband die Fiale zwischen 10 und 18 Uhr zu jeder vollen Stunde mit dem Haupthaus.

Geplant wurde schließlich eine Niederlassung, in der man das volle Warensortiment verkaufen und darüber hinaus zusätzliche Arbeitsräume gewinnen konnte. Noch sträubten sich die zuständigen Behörden gegen den Ausbau. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Wohnungsnot wurde Grünfeld die Aufstockung des Gebäudes um eine Büroetage schließlich untersagt, nicht aber für eine Wohnnutzung, die einen Teil der verloren gegangenen Wohnräume im ersten und zweiten Obergeschoss kompensiert.

Dort wird einer der Firmeninhaber, Fritz Vincenz Grünfeld, mit seiner Familie und Dienstmädchen in eine doppelgeschossige Wohnung mit Dachgarten einziehen. Gelegentliche Scharmützel zwischen den Eigentümern und der Baupolizei konnten den Wandel hin zu einem Geschäftshaus modernster Prägung nicht aufhalten. Noch vor Eröffnung des neuen Geschäftes zeugte die temporäre Einfriedung des Baugeländes durch einen an die sieben Meter hohen „Bauzaun“ von der Ambitioniertheit des Projekts. Über seine primäre Schutzfunktion hinausgehend, war er als ephemere Shopfront samt Schaufenstern gestaltet, seine „luftige Bemalung“ in „Grünfeldblau“ nahm ihm „das unangenehme Empfinden von Bauschutt und Gefahr“.

Als die Grünfeld-Niederlassung am Kurfürstendamm schließlich eröffnete, war die Folklore (der Bauzaun zeigte in der Bemalung idyllische Szenen aus Schlesien) zugunsten einer mondänen Eleganz verschwunden. Die Neugestaltung zielte auf eine freie Grundrisse und eine möglichst großzügige Belichtung der Verkaufsräume. Dieser spektakuläre Umbau des alten Hauses kam einem Neubau gleich. Die konstruktiven Grundlagen für eine der spektakulärsten Ladengestaltungen der klassischen Moderne waren gelegt. Den Entwurf erstellte Otto Firle – kein moderner Gesinnungsarchitekt strenger Bauhaus-Observanz, sondern einer von vielen heute weithin unbekannten Baukünstlern. Firle setzte der Eisenkonstruktion im Inneren eine schwungvolle, entsprechend der inneren Geschossaufteilung dreifach horizontal gegliederte Fassade vor: „In mächtigem Schwunge greift sie um die Ecke und nimmt damit den Rhythmus des um sie flutenden Verkehrs auf“, schrieb Firle und verortete somit seine Architektur in der automobilisierten Moderne.

Mit der Fassadengestaltung konkurrierte die gleichfalls aufsehenerregende kreisrunde Innentreppe mit einer gläsernen Fahrstuhlröhre im Treppenauge. Eine ähnliche Konstruktion war kurz zuvor bei der Leiser-Niederlassung an der Tauentzienstraße umgesetzt worden. Die Treppe im Grünfeld-Haus überbot diese aber noch, weil die Fahrstuhlverkleidung, „dem Gedanken der Schraubenlinie folgend, sich in frei tragenden Parallelspiralen hinaufzog“.

Nach Fertigstellung des gläsernen Geschäftsumbaus musste das alte Oberteil des Hauses umso verstaubter wirken. Firle ließ die Stuckverzierungen abschlagen und ummantelte die Dachzone mit einer käfigartigen Konstruktion, deren Sinn sich erst nachts erschloss. Dicht gestaffelte senkrechte Neonleuchten gaben dem Eckhaus einen weithin sichtbaren Abschluss. Darüber der Firmenname, der ein bis zum Dach reichendes Kaufhaus suggerierte. Die Berliner verabredeten sich fortan an der „Grünfeld- Ecke“ zum Bummel über den Kurfürstendamm.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges standen nur noch die beiden unteren Geschosse des Gebäudes mit Resten der aufgehenden Fassade. Mit der materiellen Zerstörung der Grünfeld-Ecke fand die Zerschlagung der Firma durch die Nationalsozialisten ihren Abschluss. Fritz Vincenz Grünfeld hat die Geschichte der Arisierung, die Zumutungen, Schikanen, Erpressungen und Bedrohungen, die der Vertreibung der Familie vorangingen, in seinen bereits 1967 erschienenen Lebenserinnerungen eingehend geschildert.

Zu den Paradoxien gehört hier, dass für eine erfolgreiche Arisierung die Erinnerung an die Firma Grünfeld fortleben musste. Der Familienname war zu einem Markennamen geworden, der nicht ohne Gefahr ausgetauscht werden konnte. Werbeannoncen titelten nunmehr „Grünfeld in deutschem Besitz!“, und die Fassade zeigte 1938 den Zusatz: „Inh. Max Kühl“. Aus der Geschichte der Firma Kühl indessen wurde später der Vorgang der Arisierung ausgeblendet. 1981, zum 100-jährigen Jubiläum, musste sich Günter Kühl, der Sohn des Grünfeld-Aufkäufers Walther Kühl, vorhalten lassen, die Expansion des Unternehmens während der Nazizeit in einem Tagesspiegel-Interview nicht ausreichend kommentiert zu haben.

Die Firma Kühl betrieb 1950 den Wiederaufbau eines Geschäftshauses am selben Ort. Der Architekt Herbert Noth schuf hier einen der für die frühe Nachkriegszeit so typischen Bauten: Seine geringe Bauhöhe – nur drei Geschosse – war durch die noch mangelnde Wirtschaftskraft bedingt. Die reduzierte, elegante Form und horizontale Schichtung der Architektur knüpfte an den Vorgängerbau an. Wie bei frühen Wiederaufbauten üblich, wurde die Architektur der Nazizeit bewusst übersprungen und an eine als unverdorben betrachtete klassische Moderne angeknüpft. Stadt wurde so nur behelfsmäßig und nach dem Trauma des Nationalsozialismus retrospektiv definiert. Neben dem Reisebüro der Panamerican Airlines und einer Niederlassung der deutschen Tuchhandelsgesellschaft betrieb auch Max Kühl ein Geschäft, das jetzt als „Landeshuter Leinenhaus Max Kühl“ überschrieben war.

Erst Ende der sechziger Jahre rückte die Parzelle 227 wieder in den Mittelpunkt der Diskussion. Nach Plänen des Senatsbaudirektors Werner Düttmann wurde von 1969 bis 1972 das Ku’damm-Eck erbaut. Den prominenteren Nachkriegsbauten auf der Westseite der Kreuzung gesellte sich mit diesem Komplex ein bis dahin fehlendes Gegengewicht hinzu. Hintergrund des erstaunlich frei komponierten Einkaufzentrums war die einsetzende Kritik an den Verfehlungen der modernen Architektur. Zunächst sehnte sich das West-Berliner Bürgertum hinter gründerzeitliche Stuckfassaden zurück. Einflussreich wurde Wolf Jobst Siedlers programmatischer Abgesang „Die gemordete Stadt“ von 1964. Mit der massenhaften Zerstörung von Altbauten durch Krieg und Wiederaufbau gingen nicht nur Stadtbilder verloren, die heimatliche Gefühle hervorriefen. Die nach funktionalen Gesichtspunkten reorganisierte Stadt drohte überdies ihre Vitalität zu verlieren. Das Ku’damm-Eck reagierte auf den von Düttmann konstatierten „Verlust an Farbigkeit, Dichte, Vitalität des Städtischen schlechthin“. So sprach die Presseerklärung zur Eröffnung von einem „schillernden Bazar des 20. Jahrhunderts“, der sich dem „Boulevardstil“ des Kurfürstendamms anpasste.

Wie Firles Fassadenarchitektur entfaltete auch Düttmanns Ku’damm-Eck bei Nacht besondere Wirkung. Nutzte Firle das künstliche Licht zur architektonischen Gestaltung und ordnete dieser die Werbung unter, so bot das Ku’damm-Eck bei Nacht ein wahrhaft chaotisches Spektakel individuell gestalteter Werbeschriften nebst einer 300 Quadratmeter großen Leuchtwand. Zur selben Zeit veröffentlichte Robert Venturi mit „Learning from Las Vegas“ eine Programmschrift der Postmoderne, die die Analyse der Reklame am „Strip“ von Las Vegas zum Gegenstand hatte. Wenn Venturi und Düttmann auch unterschiedliche Positionen besetzten, so zeigt sich bei beiden der Einfluss der Pop-Kultur. Mit dem Ku’dammEck zog ein Stück Broadway oder Picadilly Circus in West-Berlin ein.

Im Rückblick hat das Ku’damm-Eck sein urbanes Versprechen allerdings nicht eingelöst. Da half weder die Kegelbahn auf dem Dach noch das Berliner Panoptikum, in dem bis zu 100 Jahre alte Figuren aus dem alten Castans’schen Panopticum an der Friedrichstraße gezeigt wurden. Der Mythos Kurfürstendamm war eben lebendiger als die Straße selbst. „Pennerparadies Ku’damm-Eck“ titelte die „Berliner Morgenpost“ neun Jahre nach der Eröffnung des Hauses. Es wurde 1998 aus „kommerziellen, ästhetischen und städtebaulichen Gründen“ abgerissen.

Neben dem Ku’damm-Eck veränderte auch das Ku’damm-Karree, erbaut 1970 – 1973, den Charakter der Straße in ihrer Mischung aus gehobenem Wohnen, Hotellerie, Einzelhandel, Gastronomie, Film- und Boulevardtheatern. Architektonisch ignorierten die Neubauten den historischen Zuschnitt der Straße, zogen die Öffentlichkeit ins Innere und trugen so zur Verödung des Straßenraums bei.

Tritt man heute aus der U-Bahn-Unterführung Kurfürstendamm, so erwartet einen ein Ensemble, das mit großer Geste die Metropolenarchitektur der zwanziger Jahre aufruft. Nach dem Abriss von Düttmanns Einkaufszentrum entstand hier von 1998 bis 2001 das Neue Ku’dammEck, ein Kaufhaus und Hotelbau nach Entwürfen aus dem Büro Von Gerkan, Marg und Partner. Dahinter steht an der spitzen Ecke Augsburger / Joachimstaler Straße ein zwischen 2002 und 2005 von Jan Kleihues erbautes Hotelgebäude. Wie bei Helmut Jahns Neuem Kranzlereck gegenüber speist sich das Pathos dieser Architektur ganz aus einer retrospektiven Haltung. Von Gerkan, Marg und Partner schließen mit ihrem kompakten runden Baukörper an die großen Solitärentwürfe der expressionistischen Architektur an. Der Hotelbau von Kleihues mutet hingegen eher amerikanisch an, aufgenommen wird hier der Topos Berlins als amerikanischster unter den europäischen Städten.

Wieder ist es die Sehnsucht nach Stadt, diesmal in Form eines nostalgischen Postkartenmotivs, die die Architekten beflügelte. Solch bildhaftes Arbeiten im Stadtraum prägt die Hauptstadtarchitektur vielerorts. Und auch dem Wiederaufbau des Schlosses im Herzen Berlins liegt eine primär vom Straßenbild her denkende Vorstellung von Stadt zugrunde. Das Ensemble am Joachimstaler Platz gehört immerhin zu den interessanteren Beispielen dieser nolens volens zeitgenössischen Architektur.

Wir entnehmen diesen Text in gekürzter Fassung dem am 20. Oktober im ImhofVerlag erscheinenden Band „Heimweh nach dem Kurfürstendamm. Geschichte, Gegenwart und Perspektiven des Berliner Boulevards“, hg. von Michael Zajonz und Sven Kuhrau im Auftrag der Universität der Künste Berlin. 144 Seiten, 80 Abbildungen, 19,95 €.

Sven Kuhrau

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