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Teekultur: Der Mann, der Earl Grey war

Sein Name steht für englische Teekultur. Doch ein Denkmal bekam er für seine Politik: Wie Earl Grey, der 1807 den Grafentitel erbte, das Königreich vor der Revolution rettete.

Da konnte nicht mal London mithalten. Als die BBC ihre Hörer vor ein paar Jahren fragte, welches denn die schönste Straße im ganzen Land sei, fiel die Wahl auf Newcastles Grey Street: eine mächtig anmutende Straße im reinsten Klassizismus, erbaut in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Frisch geputzt und ein bisschen steril, ist sie heute gesäumt von Boutiquen, Designhotels und Straßencafés, in denen sich die Cappuccino-Gesellschaft trifft. In elegantem Schwung führt die Grey Street auf eine Säule zu, die aussieht wie Nelson’s Column auf dem Londoner Trafalgar Square. Nur ist der Mann obenauf weder Admiral noch General, sondern der einzige Zivilist Großbritanniens, dem eine solch hohe Ehre zuteil wurde: Earl Grey.

1838 wurde das 46 Meter hohe Monument als Krönung der imposanten Straße eingeweiht. Da war Charles, Earl Grey der Zweite gar nicht mehr aktiv in der Politik, aber auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Die Säule, so heißt es in einer Inschrift, wurde errichtet für die Dienste, die Grey seinem Land fast ein halbes Jahrhundert lang erwiesen hatte: „als beharrlicher Advokat des Friedens und furchtloser und beständiger Kämpfer für bürgerliche und religiöse Freiheit“.

Earl Grey war der Mann, der dem Tee seinen Namen gab. Ein Mandarin, so berichtet eine Legende, soll dem Engländer den mit Bergamotteöl parfümierten Tee serviert haben, nachdem Grey ihm das Leben gerettet hatte. Er trank gerade Tee, heißt es in einer anderen Version, als er einen Zweig der Zitrusfrucht geschenkt bekam; weil er sonst nichts damit anzufangen wusste, warf er ein paar Blätter in die Tasse. Möglicherweise war das Ganze aber auch das zufällige Ergebnis eines Schiffsunglücks, als Teekisten und Behälter mit Bergamotteöl ineinanderkrachten. Verbürgt ist nur, dass das Getränk dem Grafen außerordentlich mundete. Und weil es den aromatisierten Schwarztee in Großbritannien nicht zu kaufen gab, soll der passionierte Teetrinker ihn beim Londoner Hoflieferanten Twinings in Auftrag gegeben haben. Die Zeit war reif für die Erfindung, entwickelte sich England doch gerade von einer Café Society zu einer Nation der Teetrinker. „Wurde um 1700 noch zweieinhalbmal mehr Kaffee als Tee importiert“, so der Kulturhistoriker Hans-Dieter Gelfert, „war es um 1750 schon siebenmal mehr Tee als Kaffee.“

Earl Grey ist noch heute ein Renner. Einst der Oberschicht vorbehalten, ist er inzwischen selbst in Deutschland ein Massenprodukt, macht fast die Hälfte der aromatisierten Tees aus. Den Mann dahinter dagegen kennt hierzulande kein Mensch. Dabei war Earl Grey einer der wichtigsten Reformpolitiker Großbritanniens im 19. Jahrhundert. Eine treibende Kraft beim Verbot des Sklavenhandels in England vor 200 Jahren und später des Verbots der Sklaverei im gesamten Empire, war er auch ein Gegner des Kriegs gegen Frankreich. Verheiratet mit einer Irin, kämpfte er für die Gleichberechtigung der Katholiken und sorgte zumindest für eine gewisse Kontrolle der Arbeitsbedingungen in den immer zahlreicher werdenden Fabriken. Vor allem aber hat Earl Grey als Premierminister die entscheidende Parlamentsreform durchgesetzt, die für eine Erweiterung des Wahlrechts und eine gerechtere Vertretung der Bevölkerung im Unterhaus sorgte. Was fast bürokratisch klingt, war ein entscheidender Schritt auf dem Weg von der Feudalgesellschaft zur Demokratie.

1832 wurde der Reform Act verabschiedet – „ein glorreicher Erfolg“, wie es auf dem Denkmal in Newcastle heißt, „nach einem mühsamen und langwierigen Kampf“. 40 zähe Jahre lang hatte der Graf dafür gekämpft, die meiste Zeit davon in der Opposition. Immer wieder war er von den konservativen Tories und den Lords im Oberhaus abgeschmettert worden, immer wieder hat er den Gesetzesentwurf von neuem eingereicht. Mit seiner Beharrlichkeit hat der Aristokrat Großbritannien vor einer blutigen Revolution bewahrt.

Es reichte. Drei Jahre war er jetzt schon unterwegs, drei Jahre große Ferien auf dem Kontinent. Nach der obligatorischen Grand Tour war es Zeit, was zu machen: Mit 22 Jahren wurde Charles Grey Abgeordneter im Unterhaus, den Sitz hatte ihm sein Onkel verschafft. Sein Studium hatte der junge Mann da längst hinter sich. In Cambridge hatte er das Trinity College besucht, auf einen Abschluss hatte er verzichtet; er musste ja keinen Beruf ausüben. Geld hatte der Aristokrat aus einer alten Familie des Landadels in Northumbria, Sohn eines Generals, genug.

Kaum in London, verliebte Grey sich – in eine verheiratete Frau. Georgina Duchess of Devonshire, liiert mit einem älteren, untreuen Tyrannen, stand im Mittelpunkt eines illustren, geistreichen Kreises in London, der sich um den Anführer der liberalen Partei der Whigs, Charles James Fox, gebildet hatte. Im Haus der lebhaften Herzogin traf man sich zum Debattieren, Tanzen, Kartenspielen.

Bald erwartete die Duchess ein Kind von Charles; nur wollte sie ihren Mann nicht verlassen – der drohte, ihr die ehelichen Kinder zu entziehen. So zogen denn Charles’ Eltern seine Tochter als ihr Kind auf, während er selbst 1794 Mary Pansonby heiratete, mit der er sechs Töchter und zehn Söhne bekam.

Fox allerdings, seinem politischen Ziehvater und Idol, blieb Grey treu, sein Leben lang. Lange galt Großbritannien als Vorbild in Sachen bürgerlicher Freiheit – bis das Land der amerikanischen Kolonie die gewünschte Unabhängigkeit verweigerten. Seit 1789 waren die Franzosen nun die Progressiven, während Großbritannien unter der Regierung von William Pitt einen großen Schritt zurück machte. Getrieben von einer panischen Angst vor dem Überschwappen der Französischen Revolution, beschnitt der zutiefst konservative Tory, protegiert vom König, Versammlungs- und Redefreiheit. Fox dagegen, der schon die amerikanische Unabhängigkeit unterstützt hatte, sympathisierte mit den französischen Ideen und forderte eine gründliche Reform des Parlaments. Grey schloss sich der liberalen Sache an und reichte 1792 zum ersten Mal eine Petition für die Parlamentsreform ein. Vergeblich.

Dickkopf von Kindesbeinen an, machte er weiter, für kurze Zeit sogar in der Regierungskoalition, zeitweise war er Leader of the House of Commons. Es passte ihm daher gar nicht, als er nach dem Tod des Vaters am 16. November 1807 den Titel des Earl erbte und ins Oberhaus wechseln musste. Sehr viel lieber trat er ein anderes Erbe an: Als Fox 1806 starb, wurde Grey dessen Nachfolger als Parteiführer.

Kein leichter Mensch, mal arrogant, mal depressiv, war er der Politik zuweilen durchaus müde. Immer wieder mussten ihn seine Parteifreunde zur Arbeit regelrecht zerren. Viel lieber wäre er auf dem Land geblieben, in seinem geliebten Howick Hall nördlich von Newcastle, das er von seinem Onkel geerbt hatte und das mit der Familie immer größer wurde. Stattdessen musste er ins vier Tagesreisen entfernte dreckige London.

Aber dann, nach zahlreichen Abstimmungsniederlagen, kam seine letzte Chance. 66 Jahre alt war Earl Grey, als er 1830 Premierminister wurde. Sein Vorgänger, der erzkonservative Duke of Wellington, „der eiserne Herzog“, hatte sich der Reform so vehement wie früher Pitt widersetzt. Nachdem es zu Unruhen gekommen war, wurde er abgesetzt; jetzt übernahm Grey auf Bitten des neuen Königs William IV. die Macht. Das Land hatte sich in all den Jahren stark verändert, nicht zuletzt durch die Eisenbahn. Mit der Industrialisierung und Modernisierung hatte sich eine breite Mittelschicht gebildet; Städte wie Manchester und Leeds wuchsen rapide – hatten aber keinen einzigen Sitz im Parlament, während zum Teil winzige, völlig bedeutungslose Wahlbezirke mehrere Abgeordnete stellten. Und die hatten sich als besonders bestechlich erwiesen.

Die Notwendigkeit einer Neuverteilung der Sitze im Parlament und des Kampfs gegen die Korruption wurde immer drängender. „Es wird über nichts anderes gesprochen, an nichts gedacht, von nichts geträumt außer der Reform“, notierte ein Parteikollege. „Jeder, den man trifft, fragt: Was sagt man jetzt? Wie wird es laufen? Was gibt’s für Neuigkeiten? Was denken Sie? So geht es von morgens bis nachts, in den Straßen, den Clubs und zu Hause.“ Aber die Mehrheit im Oberhaus blieb stur. Earl Grey auch: Sie lehnten die Reform ab, er wollte sie nicht durch Kompromisse verwässern.

Die Lage spitzte sich immer mehr zu. Mitglieder der Mittelschicht schlossen sich zu Political Unions zusammen, organisierten Versammlungen, sammelten Unterschriften, machten Stimmung. Die Demonstrationen blieben nicht friedlich. Nachdem das Oberhaus zum wiederholten Male das Reformgesetz abgelehnt hatte, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Besonderen Zorn zogen sich dabei die Bischöfe zu, die im House of Lords als ausgeprägte Hardliner auftraten. Fenster wurden eingeschmissen, Häuser angezündet, die empörten Rebellen warfen mit Steinen auf Polizisten. Einige Menschen wurden getötet, in Bristol war es am schlimmsten, die Armee griff ein.

Die Lords scherte das nicht. Am 7. Mai 1832 lehnten sie den Gesetzentwurf wieder ab. Earl Grey war endgültig klar, dass er auch mit den besten Argumenten nicht weiterkommen würde; dabei galt der Graf mit der aristokratischen Erscheinung als einer der besten Redner im Parlament, klug, klar und eloquent. Earl Grey griff zum allerletzten Mittel: Er bat den König, den Whigs im House of Lords zusätzliche 50, 60 Sitze zu verschaffen, um das Gesetz durchzubringen. Der König lehnte erst mal ab. Am 9. Mai trat die Regierung zurück, jetzt sollte ausgerechnet Greys Vorgänger, der Duke of Wellington, wieder die Geschäfte übernehmen und eine gemäßigte Reform durchbringen. Nur konnten die Tories sich nicht einigen.

Die Krawalle wurden so heftig, dass William IV. nun doch wieder Earl Grey zurückholte, der unter einer Bedingung zurückkehrte: „das Gesetz, das ganze Gesetz und nichts als das Gesetz.“ Der König versprach den Whigs die nötigen Plätze im Oberhaus – und siehe da: Allein die Aussicht, von den Liberalen zur Seite gedrängt zu werden, genügte den Konservativen. Bevor William IV. sein Versprechen wahr machen konnten, stimmten die Lords schnell zu, mit 106 zu 22 Stimmen. Am 7. Juni 1832 gab der König dem Reform Act, der auch die Einflussmöglichkeiten des Monarchen aufs Parlament gehörig beschnitt, seinen königlichen Segen.

Grey hatte, so der Historiker John Derry, erreicht, was er wollte: Frieden und Stabilität im Land gesichert, das Vertrauen der Bevölkerung ins repräsentative Parlament wiederhergestellt und damit auch die Stellung des Adels gesichert. „Er hatte sowohl die Reaktionäre wie die Radikalen geschlagen.“

Im ganzen Land wurde der Sieg gefeiert, mit Paraden, Festen, Kundgebungen, aber nirgends so heftig wie in Schottland, das am meisten von der Reform profitiert hatte: Acht neue Sitze im Unterhaus hatten sie dazugewonnen. „O happy day!“ jubelten Tausende von Menschen am Straßenrand von Edinburgh noch zwei Jahre später, im September 1834. „Welcome to the Champion of Reform!“ Earl und Lady Grey kutschierten an der Spitze einer Parade durch die Straßen, winkten und schüttelten Hände, die Kirchenglocken läuteten. Zum Dinner waren fast 3000 Gäste geladen.

Im selben Jahr trat Earl Grey, im Konflikt mit seiner Partei über den Umgang mit Irland, von seinem Amt zurück. 70 Jahre alt, war er froh, endlich bei seiner Familie in Howick Hall zu sein und tun zu können, was er so gerne tat: Karten spielen, Hunde ausführen, Tee trinken. Bis er, 1845, mit 81 Jahren starb.

Earl Grey, das werden heutige Historiker nicht müde zu betonen, war kein Demokrat. In ihren Büchern über den Grafen porträtieren E. A. Smith und John Derry ihn als Mann des 19. Jahrhunderts, ein Aristokrat durch und durch, der die bestehende Gesellschaft nicht umstürzen, sondern bewahren wollte. Auch als er 1833 die Abschaffung der Sklaverei im Empire durchsetzte, waren es die Plantagenbesitzer, die Millionenabfindungen bekamen, und nicht die Sklaven. Kein revolutionärer Denker oder Ideologe, sondern ein Realist und Pragmatiker.

Nicht nur das Land, auch er selbst hatte sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Am Ende seines Lebens fühlte Earl Grey sich den Tories näher als einigen seiner Parteifreunde. Aber was die Reform anging, war er sich immer treu geblieben. Am ursprünglichen Entwurf hatte er keine gravierenden Abstriche gemacht. Und er hat, vielleicht ohne es zu wollen, das getan, was seine Gegner immer fürchteten: Er hat eine Tür geöffnet, die sich nicht mehr schließen ließ. Earl Grey hat der parlamentarischen Demokratie und dem allgemeinen Wahlrecht den Boden bereitet. Es sollte zwar noch knapp 100 Jahre und etliche Reformen dauern, aber am Schluss durften alle Bürger an die Urne gehen. Ganz zum Schluss auch Frauen.

Was Earl Grey, den Tee, angeht, ist der Fortschritt ambivalent: Er ist zwar billiger, aber nicht unbedingt besser geworden. Heute wird er oft mit künstlichen Aromen statt mit echtem Bergamotteöl parfümiert. Aber, auch das eine Errungenschaft des demokratischen Zeitalters: Heute kann man Earl Grey bei Earl Grey trinken. Die Nachfahren des Grafen haben den Garten von Howick Hall der Öffentlichkeit geöffnet. Wer sich dort die Schneeglöckchen und Osterglocken anguckt, darf auch ins Earl Grey Tea House.

Vermutlich wird dort Twinings serviert. Die Londoner Firma hatte seinerzeit leider vergessen, sich die aparte Teemischung patentieren zu lassen. Jetzt darf jeder den Namen Earl Grey benutzen. Allerdings ist der königliche Hoflieferant heute der einzige Produzent, der sich mit der Familie des Namensgebers schmücken kann: Selbst die ordinären Teebeutel werden geadelt mit einem Grußwort des gegenwärtigen Earl Grey, dem sechsten.

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