zum Hauptinhalt
Kampusch

© dpa

Wer war Wolfgang Priklopil?: Natascha Kampusch und der stille Nachbar

Er wollte eine Frau nach seinen Idealen formen – und entführte deshalb ein kleines Mädchen. Erst achteinhalb Jahre später konnte ihm Natascha Kampusch entkommen. Wer war dieser Wolfgang Priklopil, der sich am 23. August 2006 vor eine Schnellbahn warf?

Über dem Grab in der zweiten Reihe liegt eine Steinplatte. Auf den anderen Gräbern des kleinen Friedhofs im Süden von Wien blühen Blumen und wachsen Sträucher, auf der Platte in der zweiten Reihe steht nicht einmal eine Vase. Nur zwei Grablichter, Kerzen brennen nicht darin. Und dann ist da ein Stein, auf dem auch ein Name steht, doch der Name ist unerheblich, denn er ist falsch; er gehört nicht dem Menschen, der hier begraben ist. In Wirklichkeit liegt in diesem unauffälligen Grab in der zweiten Reihe der Mann, der vor einem Jahr zum Inbegriff des Bösen wurde: Wolfgang Priklopil.

Am 23. August 2006 um 20 Uhr 59, knapp acht Stunden, nachdem Natascha Kampusch die Flucht gelungen war, warf sich Wolfgang Priklopil zwischen den Stationen Praterstern und Traisenstraße vor einen Zug der Schnellbahnlinie S1. In den Stunden zuvor war er auf der Flucht vor der Polizei gewesen, zunächst fuhr er von seinem Heimatort Strasshof bei Wien aus kreuz und quer durch die nordöstlichen Wiener Stadtteile, dann, als klar war, dass die Polizei auch sein Auto, einen roten BMW 850i, bereits kannte, zu Fuß. Als er keinen Ausweg mehr sah, sprang er.

Wolfgang Priklopil, der 1998 die damals zehnjährige Kampusch entführt und dann achteinhalb Jahre in einem Kellerverlies unter seiner Garage gefangen gehalten hat, war sofort tot. Die Schnellbahn hat ihm den Kopf abgetrennt.

Vieles ist seit damals über Priklopil geschrieben worden, je nach Qualitätsgrad des Mediums über die „Bestie von Strasshof“, den „Psychopathen“ oder schlicht den „irren Kampusch-Entführer“. Nachbarn aus der Strasshofer Kleingartensiedlung kamen zu Wort, die Priklopil als „freundlichen, aber zurückhaltenden Einzelgänger“ beschrieben, ehemalige Arbeitskollegen, die ihn als „Technikfreak“ bezeichneten, Soziologen und Kriminalpsychologen, die über seine Störungen und seinen komplexbeladenen Umgang mit Frauen spekulierten.

Wolfgang Priklopil wurde am 14. Mai 1962 in Wien geboren, in eine, zumindest nach außen hin, intakte Familie. Priklopils Vater war Chefeinkäufer bei einer Getränkefirma, dem Weinbrandproduzenten Scharlachberg, die Mutter kaufmännische Angestellte, als Wolfgang zur Welt kam, gab sie ihren Job auf – eine durchschnittliche Mittelstandsfamilie. Sie hatten ein Auto, fuhren jedes Jahr im Urlaub an die Adria, wie es in den 60ern und 70ern üblich war, und als die Familie dann ein Grundstück in Strasshof, diesem 7000 Einwohner großen Ort im nördlichen Wiener Speckgürtel erbte, baute sie darauf ein Einfamilienhaus. Mitte der 70er Jahre zogen sie ein.

In Strasshof erzählen die Menschen heute, dass der junge Priklopil ein Einzelgänger war. Er spielte weder Fußball noch Tennis, war in keinen Vereinen aktiv und hatte auch zu seinen Klassenkameraden außerhalb des Unterrichts kaum Kontakt. Stattdessen war er meistens zu Hause, setzte komplizierte Puzzles zusammen, bastelte Modellflugzeuge oder Eisenbahnanlagen. Zu den Mädchen aus der Nachbarschaft hielt er Distanz, genau wie später zu den Arbeitskolleginnen. Diskos? Waren nichts für ihn, auf Partys ging er nie.

In der Schule war Priklopil brav, strebsam und gewissenhaft, einer jener Schüler, die immer alle Hausaufgaben erledigt hatten und gut vorbereitet in den Unterricht kamen. Aber eine Leuchte war er nicht, nach der Grundschule wechselte er nicht aufs Gymnasium. Er wollte Techniker werden, nach der achten Klasse ging er auf eine Höhere Technische Schule. Doch anscheinend war er dort schnell überfordert, nach nur einem Jahr brach er ab und begann eine Lehre als Schaltmechaniker in der Wiener Zweigstelle von Siemens. Dennoch, so sagen die ehemaligen Kollegen nach seinem Tod, habe er immer den Eindruck vermittelt, als wäre er Ingenieur und hätte die Höhere Technische Schule abgeschlossen. Ein unauffälliger Mensch sei er gewesen, erzählten die Kollegen den österreichischen Zeitungen, „fleißig und gewissenhaft“, „höflich, aber trotzdem ein Typ, mit dem man nicht wirklich warm werden konnte“.

Wolfgang Priklopil war ein Einzelkind, gut behütet von seinen Eltern, vor allem von seiner Mutter. 1986, da war Priklopil 24 Jahre alt, starb sein Vater, ganz plötzlich. Er war mit einem angeblichen Blinddarm-Durchbruch ins Krankenhaus geliefert worden, doch bei der Operation stellte sich heraus, dass er Darmkrebs im Endstadium hatte. Der Tod des Vaters schweißte Mutter und Sohn noch enger zusammen, und da die Familie finanziell gut abgesichert war, musste Waltraud Priklopil auch danach keinen Job annehmen. „Jetzt sind mein Bub und ich nur noch alleine auf der Welt“, soll sie nach dem Tod ihres Mannes einer Nachbarin gesagt haben.

Die Mutter, die ihren Job für ihren Sohn aufgegeben hatte, kümmerte sich fast rund um die Uhr um ihn. Selbst während seiner Lehrzeit hatte Wolfgang Priklopil noch Jausenbrote dabei, die ihm seine Mutter morgens gestrichen hatte. Und im Vergleich zu vielen anderen Teenagern, die die Jause von zu Hause im Müllcontainer entsorgen, weil ihnen die Fürsorge der Mama vor den Freunden peinlich ist, aß er sie auch.

Mit Anfang 20 zog er aus dem gemeinsamen Haus in Strasshof aus und quartierte sich wenige Kilometer davon entfernt in einer kleinen Wohnung in der Rugierstraße in Wien-Donaustadt ein. Nach wie vor kochte Waltraud Priklopil für ihren Sohn, sie machte ihm die Wäsche und putzte ihm die Wohnung. Sie verbrachten die meisten Abende miteinander, entweder in Wien oder in Strasshof, an den Wochenenden machten sie mit dem Auto Ausflüge ins Umland.

Ein paar Jahre später zog er wieder in Strasshof ein. Wieder lebten die beiden für einige Zeit unter einem Dach, dann zog die Mutter aus, ebenfalls in jene kleine Wohnung in der Rugierstraße, die die Familie immer noch besaß. Waltraud Priklopil fuhr von Wien-Donaustadt nach Strasshof, putzte das Haus, kümmerte sich um den Garten, und bevor sie wieder zurück nach Wien fuhr, kochte sie ihrem Sohn das Essen für die nächsten Tage. Woche für Woche machte sie das, bis zum 23. August 2006. Da hatte ihr Sohn bereits achteinhalb Jahre lang Natascha Kampusch eingesperrt, unter der Erde, hinter einer schweren Stahltür, die ihren kleinen Raum von der Montagegrube in der Garage trennte.

Die beiden Frauen haben sich nie gesehen, und auch wenn es anfangs für die Ermittler unwahrscheinlich klang, dass Waltraud Priklopil trotz ihres engen Verhältnisses zu ihrem Sohn nichts von dessen Doppelleben mitbekam – mittlerweile sieht das auch die Polizei als erwiesen an. Natascha Kampusch hat dies in ihren Vernehmungen durch die Polizei bestätigt. Priklopil, der Eigenbrötler und Einzelgänger, war ein Einzeltäter, und er hatte sich über die Jahre Strukturen geschaffen, in denen sein Plan auch organisatorisch funktionieren konnte. Mit Präzision hatte er alles durchdacht. Lebensmittel kaufte er aus Prinzip nur in Supermärkten in Wien, um im Ort kein Gerede zu erzeugen, weil der Single Priklopil ja immer für zwei einkaufte. Den Müll, der klar Natascha Kampusch zugeordnet werden konnte, wurde extra gesammelt und täglich von Priklopil in Großcontainern, aber nicht im Hausmüll entsorgt. Und um die Anwesenheit Kampuschs auch vor seiner Mutter zu verbergen, hatte er einen zweiten, geheimen Kühlschrank angeschafft, der im Vorraum zu Nataschas Gefängnis stand.

Natascha Kampusch hat nach ihrer Flucht ziemlich viel über Wolfgang Priklopil erzählt, und über das Leben, das sie achteinhalb Jahre führen musste. Dass sie Priklopil in den ersten Jahren gar nicht aus dem Kellerverlies herausließ. Dass er sie einerseits geschlagen habe, andererseits aber auch liebevoll gewesen wäre. Dass sich über die Jahre ein irrationales Bestrafungs- und Belohnungssystem herausbildete, mit dem er sie unter Druck setzte. Dass er im Grunde ein schwacher Mensch gewesen sei und sie das Gefühl hatte, ihn immer besser unter Kontrolle zu bekommen. Dass sie zwar sein Opfer war, in Wahrheit aber in ihrem Binnenverhältnis die steuernde, kontrollierende Kraft gewesen wäre. Und dass es in ihrem Verhältnis einen privaten Bereich gegeben habe, der nur sie und „den Herrn Priklopil“ etwas anginge. Kampusch sagte diesen Satz immer, wenn sich Interviewer an die Frage heranwagten, ob er sie sexuell missbraucht habe.

Nachdem Natascha Kampusch im vergangenen Jahr nur wenige Wochen nach ihrer Flucht erstmals im österreichischen Fernsehen ein langes Interview gegeben und darin ausführlich über Priklopil gesprochen hatte, war sich die Öffentlichkeit rasch einig. Kampusch leide unter einer massiven Form des „Stockholm“-Syndroms, wonach Entführungsopfer allmählich beginnen, eine Sympathie für ihre Geiselnehmer aufzubauen. Gerade im Falle von Kampusch, der Priklopil über Jahre hinweg die Ausweglosigkeit ihrer Situation vorgeführt hat – und die obendrein in den prägendsten Jahren ihrer Entwicklung ausschließlich mit ihrem Entführer Kontakt hatte – ergibt diese These durchaus Sinn.

Und ganz offensichtlich hat Priklopil auch darauf gesetzt. Er habe sich die Frau für sein Leben erschaffen wollen, erklärt der Wiener Kriminalpsychologe Thomas Müller Priklopils Motivation. Die Ermittler der Kriminaldirektion und die Psychologen rund um den Wiener Psychiater Max Friedrich, die Natascha Kampusch seit ihrer Flucht betreuen, stimmen dem zu: Priklopil wollte eine Person, die seinem Ideal entspricht, und die er dazu selbst zu dem gemacht hat.

Darum entführte er eine Zehnjährige, ein Mädchen, dessen Charakter noch formbar ist. Dass es sich dabei um Natascha Kampusch handelte, dürfte Zufall gewesen sein – sämtliche Ermittlungen, die untersuchten, ob es irgendeine Verbindung zwischen Priklopil und der Familie von Natascha Kampusch gegeben hat, gingen ins Leere.Er besorgte für sie die Kleidung, er gab ihr Bücher zu lesen, er wählte aus, welche Sendungen sie im Radio hören durfte und welche Zeitungen sie zu lesen bekam. Nach ihrer Flucht wurde Kampusch oft für ihr Vokabular, ihren für ihr Alter erstaunlichen Wortschatz bestaunt, der definitiv anders war als die Sprache jener Vorstadt-Kinder, mit denen Kampusch bis zu ihrem zehnten Lebensjahr aufgewachsen war. Sie selbst sagte in ihren Interviews, dass sie gar nicht so unglücklich darüber ist, manche Erfahrungen, die Gleichaltrige sonst so machen, überspringen konnte: „Ich habe mir so manches erspart, nicht mit dem Rauchen und Trinken angefangen, nie die falschen Freunde gehabt.“ Und darum sind sich die Experten auch sicher, dass der Fall Kampusch, der wohl eher ein Fall Priklopil ist, nicht mit den Missbrauchsfällen in Belgien vergleichbar ist: Wolfgang Priklopil war kein Marc Dutroux, er hatte, zumindest für die ersten Jahre nach der Entführung, keinerlei sexuellen Motive.

Priklopils Mutter Waltraud ist heute 65 Jahre alt. Sie hat sich nie öffentlich geäußert. Sie ist aus ihrer Wohnung in Wien-Donaustadt, von der Journalisten die Adresse haben, ausgezogen und lebt irgendwo in Wien. Das Haus in der Strasshofer Heinestraße, in dem Natascha Kampusch achteinhalb Jahre festgehalten wurde, steht ein Jahr nach ihrer Flucht leer. Die Jalousien sind heruntergelassen, der Garten, den Priklopil und seine Mutter jahrzehntelang pflegten, ist verwildert. Hinter dem Haus, vor der zweiten Garage, steht nach wie vor der rote BMW 850i, mit dem Priklopil am 23. August 2006 geflüchtet war, ein Erbstück seines Vaters. Irgendjemand muss ihn aus Wien hierher überstellt haben. Das Auto ist von der Versicherung abgemeldet, es trägt keine Kennzeichen mehr. Ein paar Meter weiter steht der weiße Transporter, mit dem Natascha Kampusch 1998 entführt worden war, ebenfalls ohne Kennzeichen.

An der Haustür ist das Namensschild abgeschraubt. Anonym soll das Haus sein, wie Priklopils Grab. Als könnte damit der Schrecken ausgelöscht werden.

Wie es mit dem Haus weitergeht, ist noch offen. Im Grundbuch ist immer noch Wolfgang Priklopil zu zwei Dritteln als Eigentümer eingetragen, das restliche Drittel gehört seiner Mutter. Das Erbe ist nach wie vor nicht geregelt. Aus der Anwaltskanzlei von Natascha Kampusch heißt es, dass Gespräche mit Priklopils Mutter laufen – Kampusch möchte nämlich verhindern, dass das Haus an sensationsgeile Nachfolger verkauft wird. Der Keller, in dem sie festgehalten worden war, existiert immer noch, neben der Montagegrube, hinter der schweren Stahltür.

Natascha Kampusch hat lange überlegt, ob sie am Begräbnis von Wolfgang Priklopil teilnehmen soll. Sie tat es, nach Gesprächen mit ihren Therapeuten, dann doch nicht, stattdessen verabschiedete sie sich von Priklopil in einem sterilen Raum der Wiener Gerichtsmedizin.

Zu Priklopils Begräbnis kamen zwei Personen, die Schwester eines ehemaligen Arbeitskollegen und seine Mutter. Anwesend waren vier Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens, einen Pfarrer gab es nicht. Den Rosenkranz sprach Waltraud Priklopil selbst.

Markus Huber

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false