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Studenten nehmen an der Einführungveranstaltung im Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität teil. Für einen KfW-Studienkredit zahlen Darlehensnehmer heute monatlich im Schnitt fast drei mal so viel Zinsen wie noch vor fünf Jahren. (zu dpa "Monatliche Zinsbelastung bei Studienkredit fast verdreifacht") +++ dpa-Bildfunk +++

© picture alliance/dpa/Peter Kneffel/Bearbeitung Tagesspiegel

Gewalt gegen Jüdische Studenten: Bekommen die Hochschulen ihr Antisemitismus-Problem in den Griff?

Ein Berliner Student wurde von einem Kommilitonen angegriffen, weil er Jude ist. An vielen Universitäten fühlen sich jüdische Studierende nicht mehr sicher. Was tun? Unsere Experten geben Einschätzungen.

Von
  • Christoph Schulte
  • Yael Kupferberg
  • Stefan Müller
  • Julia Bernstein
  • Walter Rosenthal

Geschlagen, ins Gesicht getreten: Der Berliner Student Lahav Shapira ist in Mitte von einem Kommilitonen angegriffen worden – offenbar weil er Jude ist und Propalästina-Aktionen an der FU Berlin kritisierte. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben die antisemitischen Vorfälle an den Universitäten zugenommen. Ausnahmsweise fünf Experten schätzen die Lage ein. Alle Folgen unserer Serie „3 auf 1“ finden Sie hier.


Keine neue Herausforderung

Es geht um die Frage, ob für jüdische Hochschulangehörige ein sicheres, angstfreies Leben und Arbeiten an den Hochschulen möglich ist. Dass Antisemitismus auch unter gebildeten Menschen an den Orten der Aufklärung gedeihen kann, kennen wir aus der Geschichte. Auch heute fühlen sich jüdische Dozierende und Studierende an den Hochschulen nicht sicher und erleben wieder viel zu zögerliche Haltungen der Umgebung.

Judenfeindschaft ist ca. 2000 Jahre alt. Wir sprechen also nicht über eine neue Herausforderung. Es reicht längst nicht mehr aus, sich jedes Mal aus Neue über Antisemitismus im eigenen Umfeld überraschen zu lassen und schockiert zu zeigen. Es reicht auch nicht aus, sich an den Aktionen gegen Rechts zu engagieren und dabei zu glauben, dass damit automatisch der Schutz von Juden und Jüdinnen gesichert ist. Wichtig ist, die Betroffenenperspektiven und -erfahrungen ernst nehmen. Das erfordert Veränderungsbereitschaft, persönliche und institutionelle, um das Problem trotz Unsicherheiten und der Angst vor Rufschädigung ändern zu können.


Die Gesellschaft muss es schaffen

Die Frage müsste lauten: Bekommt unsere Gesellschaft das Antisemitismus-Problem in den Griff? Denn Hochschulen sind zunächst auch ein Abbild der Gesellschaft. Die HRK hat mehrfach klargestellt, dass Hochschulen Orte sein müssen, an denen sich Jüdinnen und Juden als Studierende und Mitarbeitende sicher fühlen können. Dass Jüdinnen und Juden insbesondere seit dem terroristischen Angriff der Hamas sich an Hochschulen Diffamierungen oder sogar körperlichen Attacken ausgesetzt sehen, aus Sicherheitserwägungen dem Campus fernbleiben oder ihre jüdische Identität verbergen, ist bedrückend und beschämend.

Hochschulen können und sollen nicht die Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden übernehmen. Was wir aber können: Die Rahmenbedingungen für einen sicheren und diskriminierungsfreien Raum, der unabdingbar für die Entfaltung einer freien Wissenschaft ist, setzen und durchsetzen: Demokratische Grundwerte, Meinungsvielfalt, wissenschaftsbasierte Debatten, gegenseitige Wertschätzung – ohne jeglichen Antisemitismus.


Offene und geschützte Räume müssen erhalten bleiben

Dass Antisemitismus und Rassismus an den Toren der Universitäten keinen Halt machen, weiß man aus der deutschen Akademie- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Universitäten waren auch Orte der ideologischen Mobilmachung – damit wurde der Anspruch auf die Freiheit des Geistes und der Wissenschaft suspendiert. Dieser Anspruch ist ihr Vermögen und ihre Aufgabe – es waren insbesondere nach Deutschland zurückgekehrte jüdische Intellektuelle in den 50er und 60er Jahren, die auf diesem Anspruch beharrten. Dieser steht momentan unter Druck.

Umso wichtiger erscheint es, sich der institutionellen Aufgabe bewusst zu sein und den Tendenzen der Gegenaufklärung mit den Mitteln der Wissenschaft zu begegnen, nämlich: zu denken und sich nicht von einem gegenwärtigen ökonomisch-diskurspolitischen Zwang zur Beschleunigung, Reduktion, Eindeutigkeit hetzen zu lassen. Es gilt, diese Räume als offene und geschützte zugleich zu halten. Wenn die Universität dies in ihrem Anspruch und in ihrer personellen Gesamtheit – von der Studenten- bis zur Professorenschaft – nicht vermag, wer dann?


Unis brauchen eigenständige Rassismus- und Antisemitismus-Beauftragte

Darauf, dass irgendwer das Antisemitismus-Problem in den Griff bekommt, warten Juden seit dreitausend Jahren schon vergeblich. Deswegen gibt es ja den Staat Israel. Auch die deutschen Universitäten werden darum auf absehbare Zeit ein akutes Antisemitismus-Problem unter Studierenden und Lehrenden haben, allemal nach dem 7. Oktober 2023 und dem aktuellen Gaza-Krieg, und solange es im Nahost-Konflikt keine Zwei-Staaten-Lösung gibt. Denn seit vielen Jahren schon wird der Nahostkonflikt von den Linken und im globalen Süden postkolonial ‚gelesen‘.

Er gilt nicht mehr wie im 20. Jhdt. als Teil des Ost-West-Konflikts, sondern wird heute als Paradigma eines antikolonialen Befreiungskampfs der unterdrückten Palästinenser gegen ihre jüdisch-israelischen Unterdrücker und den Westen ideologisch angeeignet: Völlig ahistorisch wird Israel zum Apartheid-Staat erklärt, Zionismus zum Kolonialismus, und die Hamas gerät kontrafaktisch zur Speerspitze eines antikolonialen Befreiungskrieges, obwohl sie statt eines freien demokratischen Palästina ein islamistisches Kalifat ohne Wahlen, Meinungsfreiheit, Frauen-, Menschen- und Bürgerrechte anstrebt.

Gegen diesen internationalen Trend kommen Universitäten nicht an. Sie müssen dennoch ihre jüdischen Studierenden mit allen Mitteln des Straf- und Relegationsrechts schützen, und sollten eigenständige Rassismus- und Antisemitismus-Beauftragte ernennen.

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