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Wer fast nur zuhause bleibt, kann schlechter Alarm schlagen: Im Corona-Jahr 2020 ist die Zahl der Gewalttaten an Kindern gestiegen.

© Gero Breloer/dpa

Gewalt gegen Kinder deutlich gestiegen: „Unbegreifliches Leid, unbeschreiblicher Schmerz“

Misshandelt und missbraucht: Die Zahl junger Opfer nimmt im Corona-Jahr 2020 deutlich zu. Und Fälle von Kinderpornografie schnellen um 53 Prozent nach oben. 

Von Hans Monath

In dem von der Corona-Pandemie geprägten vergangenen Jahr ist die Gewalt gegen Kinder deutlich gestiegen. Dies ist das Ergebnis der Polizeilichen Kriminalstatistik 2020, die der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, und der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, am Mittwoch vorstellten.

Damit bestätigten sich Befürchtungen, die Kinderärzten, Sozialexperten und Familienpolitiker zu Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 geäußert hatten. Sie warnten, dass die Schließung von Kitas, Schulen und Betreuungseinrichtungen im Lockdown den Schutz gefährdeter Kinder und Jugendlicher erschweren werde, weil tägliche Kontakt- und Hilfsangebote fehlen.

115 Kinder unter sechs Jahren wurden in dem Jahr getötet

Die Statistik zählt 152 Kinder, die im vergangenen Jahr Opfer eines vollendeten Tötungsdeliktes wurden. Das sind 40 Kinder und 36 Prozent mehr als im Vorjahr. 115 der Getöteten waren jünger als sechs Jahre alt. Opfer von Misshandlungen wurden 4.497 Kinder (elf Prozent mehr als im Vorjahr).

Sexuelle Gewalt erfuhren demnach 16.921 Kinder (sechs Prozent mehr als im Vorjahr). Durchschnittlich 46 Fälle von sexueller Gewalt am Tag wurden bekannt. Am stärksten stiegen die Zahlen zu Herstellung, Besitz und Verbreitung von Kinderpornografie. 18.722 Fälle und damit 53 Prozent mehr als im Vorjahr wurden 2020 erfasst.

BKA-Chef Münch erinnerte daran, dass die Dunkelziffer hoch ist: Die Statistik ermittelter Fälle könne „nur das Hellfeld der Kriminalität abbilden, alle anderen bleiben im Dunkeln". Dies treffe besonders dann zu, „wenn die Täter aus dem Nahbereich der Opfer stammen“, was im Zusammenhang mit Gewalt gegen Kinder und Jugendlich oft der Fall sei.

Erläutern eine Statistik, die ihnen nicht gefällt: Johannes-Wilhelm Rörig, Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (links) und Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts.

© Kay Nietfeld/dpa

Der Zusammenhang von Pandemie und höheren Zahlen sei rein statistisch nicht belegbar, sagte Münch. Die Ausnahmesituation für Familien könne aber dazu beitragen, „dass sich Gewalt stärker entlädt“. Ohne Kontaktmöglichkeit nach außen hätten Kinder nur sehr eingeschränkte Möglichkeit, Gewalt zu melden und Hilfe zu holen. Es sei deshalb nicht auszuschließen, „dass die Stress- und Isolationsfaktoren“ die Steigerung der Zahl von Gewalttaten an jungen Menschen begünstigt hätten.

"Unbegreifliches Leid, unbeschreiblicher Schmerz"

„Die Zahlen, die eben vorgetragen wurden, sind wirklich unerträglich“, sagte Anti-Missbrauchsbeauftragter Rörig. Hinter ihnen steckten „unbegreifliches Leid, unbeschreiblicher Schmerz, Ohnmacht und Angst“. Dabei zeige die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik „nur einen kleinen Ausschnitt der unerträglichen Realität für viele Kinder und Jugendliche“.

Zur Zunahme der Fälle von Kinderpornografie erklärte BKA-Chef Münch, er rechne auch in den kommenden Jahren mit einem weiteren Anstieg der Fallzahlen. Eine Ursache sei, dass Jugendliche und junge Erwachsene immer mehr solche Inhalte auf Messengerdiensten untereinander austauschten, allerdings „oft nicht aus sexuellen Motiven“.

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Zudem melde die halbstaatliche US-Organisation „National Center for Missing and Exploited Children“ (Nacmec) mehr Fälle an deutsche Ermittler. Zudem würden die technischen Verfahren zur Identifizierung von verdächtigen Dateien im Netz stetig besser, die Ermittler arbeiteten international immer enger zusammen.

Die Zahl der Fälle von Kinderpornografie stieg enorm - aber auch, weil den Ermittlern neue technische Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

© Arne Detert/dpa

Rörig warnte, eine unzureichende Personalausstattung bei Polizei und Justiz sowie der Vorrang des Datenschutzes gegenüber dem Kinderschutz verhindere, dass Durchsuchungsbeschlüsse nicht vollstreckt und Datenträger nicht ausgewertet werden könnten. „Hier ist ein Kipppunkt erreicht, wir müssen verhindern, dass das System kollabiert“, fordert er.

An die Parteien appellierte der Beauftragte, dem Kinderschutz oberste Priorität einzuräumen und ihn zur Chefsachse zu machen. In diesem Zusammenhang lobte er Nordrhein-Westfalen. Dort seien Prävention und Hilfen deutlich verbessert worden, seit der Kampf gegen sexuelle Gewalt zur Chefsache erklärt wurde.

Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) betonte, die Bundesregierung handle „mit aller Kraft“, um Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen. Sie verwies auf Gesetzesverschärfungen, wonach solche Taten von Juli an als Verbrechen gelten werden.

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