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Polen rüstet die Außengrenze der EU zu Belarus mit Stacheldraht auf.

© Attila Husejnow/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Damals die Türkei, heute Belarus: Hat Deutschland aus der Migrationskrise 2015 gelernt?

Die Erpressung der EU durch Lukaschenko in der Flüchtlingsfrage erinnert an den Druck durch Erdogan 2015. Doch die Unterschiede sind groß. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Hat Deutschland, hat Europa Lehren aus der Migrationskrise von 2015 gezogen? Verlaufen die Debatten, was die EU-Staaten gemeinsam tun können, heute anders als damals?

Manche Aspekte der aktuellen Lage gleichen sich verblüffend, ebenso manche Argumentationsmuster. Erneut benutzt ein autoritärer Nachbar der EU den Migrationsdruck an der Außengrenze als Hebel, um Zugeständnisse zu erzwingen: damals Recep Tayyip Erdogan in der Türkei, heute Aleksander Lukaschenko in Belarus.

Und wieder zerstreiten sich die politischen Kräfte in Deutschland und Europa, mit welchen Mitteln sie die Außengrenze schützen wollen und was zu weit geht. Polen möchte eine physische Barriere an der Grenze zu Belarus errichten. Mal ist von einem Zaun, mal von einer Mauer die Rede. Die Bilder von dort zeigen gewaltige Stacheldrahtrollen.

Beim EU-Gipfel vergangene Woche verlangten zwölf Staaten, die Mittel für die Grenzsperren sollen aus EU-Kassen kommen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lehnt das ab; die EU dürfe keine neuen Mauern in Europa finanzieren.

Die CDU unterstützt polnische Grenzbarrieren gegen Belarus

Doch es scheint, als habe sie das Gespür für die Stimmungslage verlassen. Ihr Parteifreund Michael Kretschmer in Sachsen unterstützt Grenzbarrieren, ebenso Manfred Weber, Fraktionschef der konservativen Parteienfamilie EVP im Europaparlament.

Kompromisssuche: Polens Premier Mateusz Morawiecki, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beim EU-Gipfel.
Kompromisssuche: Polens Premier Mateusz Morawiecki, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beim EU-Gipfel.

© John Thys/Pool AFP/AP/dpa

2015 war Griechenland das Tor in die EU und wurde für die schlechte Unterbringung der Migranten gescholten. Heute ist Polen der Schauplatz. Es soll jetzt bitte für den Rest Europas die Flüchtlingsfrage regeln, steht aber zugleich wegen der Abkehr vom Rechtsstaat am Pranger.

Im Europäischen Parlament begegneten bürgerliche und konservative Redner Polens Premier Morawiecki vor zehn Tagen mit einer Doppelstrategie: harte Kritik an der Justizpolitik, aber ausdrücklicher Dank, dass Polen die Außengrenze zu Belarus schützt.

Da ist ein Stimmungswandel in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit zu spüren. In der Migrationskrise vor sechs Jahren gab es heftige Debatten, ob und wie man Grenzen schützen kann. Vertreter humanitärer Organisation meinten: gar nicht. Rechte forderten die Sicherung durchs Militär.

Der Migrationsdruck ist heute viel geringer als 2015

Heute verlaufen die Debatten pragmatischer und weniger moralisch. Als hätten – vom französischen Präsidentschaftswahlkampf über Österreich bis ins Baltikum – alle den amerikanischen Poeten Robert Frost gelesen. Der schloss sein Gedicht über die Ablehnung von Mauern mit dem Satz: Gute Zäune machen gute Nachbarn.

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Freilich stellt sich die Flüchtlingsfrage nicht ansatzweise so dringlich wie 2015. Damals drängten Hunderttausende über die Türkei und die Balkanroute nach Deutschland. Jetzt sind über Belarus und Polen seit dem August keine Zehntausend gekommen. Es droht keine Überforderung.

Andererseits gibt es keine guten Argumente, Lukaschenko überhaupt entgegenzukommen – anders als damals bei Erdogan. Lukaschenko hat die Migranten eingeflogen, um Druck auf die EU auszuüben, damit die ihre Sanktionen gegen sein Land lockert.

Die EU muss Ambivalenz lernen: Polen kritisieren und dennoch helfen

Erdogan hatte zwar hart um Milliarden aus Brüssel gepokert – samt der Drohung, die Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsländern Syrien, Irak und Afghanistan sonst nach Europa zu schicken. Aber er war selbst ein Opfer der Krise. Millionen Menschen kamen ungebeten in sein Land. Es war eine große Belastung für die Türkei, dass sie mit Einheimischen um Unterkunft, Schulen und Jobs konkurrierten. Die EU hatte damals gute Gründe, Erdogan zu helfen – aus Eigeninteresse wie aus Solidarität.

An der Grenze zu Belarus ist die Lage anders. Je schneller Lukaschenko sich eingestehen muss, dass er mit seinen Destabilisierungsversuchen sein Ziel nicht erreicht, desto größer die Chance, dass er die Strategie aufgibt.

Doch was heißt das für den Umgang mit Polen? Die Ambivalenz, die das Parlament gegenüber Morawiecki zeigte, ist kein schlechtes Vorbild für die Kommission. Es ist kein inakzeptabler Widerspruch, wenn die EU die PiS-Regierung in Warschau wegen der Justizreform hart angeht, sie aber beim Schutz der Außengrenze unterstützt. Im Umgang mit Erdogan war ihr Dilemma weit größer.

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