zum Hauptinhalt

Politik: Heimweh nach den Ostgebieten

Von Harald Martenstein

Im Fernsehen lief ein Melodram, es hieß „Die Flucht“. Von den meisten Kritikern wurde der künstlerische Wert des Werkes knapp über der Nachweisbarkeitsgrenze eingestuft, macht ja nichts. Interessanterweise wurde in diesem Zusammenhang gesagt, Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg seien „Tabuthemen“. Diese Aussage beschreibt ziemlich genau das Gegenteil der Wahrheit und kann nur vertreten werden, sofern das historische Gedächtnis nicht weiter zurückreicht als vier Wochen. Jahrzehntelang gab es deutsche Vertriebenenminister, jahrelang saß die Vertriebenenpartei BHE im Bundestag.

In den ersten Nachkriegsjahren hat sich Deutschland, verständlicherweise, gewiss, intensiver an das erlittene als an das von ihm angerichtete Leid erinnert. Dabei wurde immerzu aufgerechnet. Ja, gut, wir haben Polen überfallen – aber dafür hat der Pole unsere Ostgebiete kassiert. Die soll er mal schön wieder rausrücken! So klang der Mainstream- Sound von 1960. Es gibt ein Recht auf Trauer, aber es gibt kein Recht auf Leugnung von Tatsachen, zum Beispiel der Tatsache, dass nicht der Pole, sondern Hitler uns Breslau geraubt hat.

Heute geht Deutschland mit seinen historischen Schulden anders um als zum Beispiel Japan, darauf kann man vielleicht sogar stolz sein. Allerdings gibt es Unterschiede. Unser Verhältnis zu Polen und Tschechien ist im Durchschnitt immer noch kühler als das zu den meisten westlichen Nachbarn. Auf der einen Seite Herzlichkeit und Nähe, auf der anderen distanzierte Freundlichkeit, oft gepaart mit einer Spur Arroganz. Die großen, symbolischen Versöhnungsakte fehlen. Das hat – nicht nur, aber auch – mit der Vertreibung zu tun. Können wir den anderen nicht verzeihen, ausgerechnet wir, die wir so sehr auf die Versöhnungsbereitschaft anderer Völker angewiesen waren?

Idee für einen Fernsehfilm: Während des Holocaust gelingt den europäischen Juden ein Aufstand. Die Menschen in den Lagern bewaffnen sich, brechen aus und töten, in rasender Wut, hunderttausende Deutsche. Sechzig Jahre später ist das Verhältnis immer noch angespannt. Die deutsche Seite sagt, dass Auschwitz ein Unrecht gewesen sei, gewiss, aber man erwarte, dass auch die jüdische Seite sich endlich entschuldige, dafür, dass sie sich einfach so gewehrt und gerächt hat. Alle historischen Vergleiche sind schief, immer, aber so viel anders ist es bei Polen und Russen wirklich nicht gelaufen.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false