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Politik: Heraus aus der Defensive

Von Peter von Becker

So kann es nicht mehr weitergehen! Das ist der bundesweite Tenor nach dem hilferufenden Brandbrief aus der Rütli-Hauptschule in Neukölln. Der Berliner Bezirk ist, was Jugendgewalt und Bildungsmiseren, was mangelnde Integration von Migranten und soziale Depravierung angeht, zum Symbol geworden. Knallhart – und dabei ein Symbol nicht nur für einen lokalen Missstand. Es geht um das ganze Land.

Alle wissen, dass es nicht reicht, in sich ausweitende Problemzonen einfach mehr Polizisten, Türkisch sprechende Sozialarbeiter oder nervenstärkere Lehrer zu schicken. Die neuen Rütli-Schwüre sind da erst mal Beschwichtigungssprüche. Mehr als kurzfristige Aktionen könnte ein Umdenken bewirken, das jegliches Missgeschick nicht immer gleich nebulös an „die Gesellschaft“ und an eine Art Sozialtechnologie delegiert. Schon die deutsche Pisa-Debatte hatte überwiegend nur Lehrpläne und die Lehrerausbildung im Blick. Und übersah, dass die Verantwortung für das, was aus Kindern wird, zuerst bei den Eltern liegt.

Das beginnt in den Horten und Grundschulen, deren Lehrer seit langem (von Mecklenburg bis Bayern) klagen, dass sie nicht die primären Erziehungsdefizite der Elternhäuser ausgleichen könnten. Hierbei sind Kinder nicht allein aus Armutsgebieten betroffen. Es gibt bei uns auch das zuhauf: Wohlstandsverwahrlosung.

Wer nun gegenüber auffälligen Schülern weniger ausweichende Toleranz empfiehlt, muss die Eltern mit einbeziehen. Regelverstöße, auch mehrfaches unentschuldigtes Fehlen von Minderjährigen, deren Lebenschancen in der Schule ja auf dem Spiel stehen, betreffen sehr wohl die Verantwortung der Eltern. Spürbare finanzielle Sanktionen oder bei Mi- granten gar eine Gefährdung der Aufenthaltserlaubnis – das ist eine Sprache, die auch sonst Sprachlose verstehen.

Will man zu Gunsten einer besseren Integration allerdings etwas grundlegend ändern, müsste man bei der eigenen Sprache anfangen. Dass die Bundesrepublik für ihre ersten Arbeits-Migranten das nette Wort „Gastarbeiter“ erfand, war nach der NS-Herrschaft über Millionen „Fremdarbeiter“ noch zu verstehen. Viele Gäste, die oft nicht als solche behandelt wurden, sind dann geblieben. Und sie haben das Land mit aufgebaut und dank ihrer südlichen Lebenskultur auch über die Gastronomie hinaus liebenswerter gemacht. Das wird im frostigen Ton der „Ausländer“-Debatten oft übersehen.

Genauso unangebracht wie ein national-konservatives Ressentiment aber sind die Multikultischmusegesänge jenes toskanafraktionellen Milieus, das den italienischen Kellner duzt und aus sicherer Entfernung mehr öffentlich subventionierte Teestunden mit arabischen Müttern fordert. Jetzt, nach Neukölln, haben sich die politischen Lager zwar angenähert. Dennoch diskutiert die Politik von Grün bis Schwarz noch immer im Begriffs-Jargon der „Zuwanderung“.

Tatsächlich aber haben wir Einwanderung. Deutschland ist, wie alle nicht-insularen Wohlstandsnationen in Zeiten weltweiter Migrationsströme, längst ein Einwanderungsland. Das wollten die einen nie anerkennen und die anderen nicht so deutlich aussprechen. Also haben wir ein „Zuwanderungsgesetz“. Weil das trügerische Unwort vom „Zuwanderer“ etwas Beiläufigeres, weniger Einschneidendes und Veränderndes suggeriert.

Erst wenn akzeptiert wird, dass Einwanderung per se weder eine Drohung noch eine Verheißung bedeutet, sondern gesellschaftliche Realität ist, kommen wir aus jener psychologischen Defensive heraus, die zugleich Weltoffenheitskampagnen und absurde Fragebögen zur Einbürgerung gebiert. Jenseits von Abwehr und Anbiederung ließen sich stattdessen Ziele einer konstruktiven Politik formulieren. Positive Ziele – zum Vorteil der Mehrheitsgesellschaft und der Migranten. Deutschland braucht schon aus demographischen Gründen Einwanderer, die nicht als Arbeitslose die Sozialsysteme belasten, sondern sie sichern helfen. Und wer seine Heimat aufgibt, muss für ein besseres Leben auch einen eigenen, offenen Neuanfang machen. Das ist die beiderseitige Herausforderung. Damit Neukölln nicht weiter Schule macht.

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