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Politik: „Heute wurde auf Serbien geschossen“

Belgrad trauert – und bangt um die Zukunft

„In was für einem Land leben wir eigentlich?“, ist der häufigste Kommentar am Tag danach. Schon am frühen Morgen kommen viele Menschen zum serbischen Regierungsgebäude, um zum Gedenken an den am Mittwoch ermordeten serbischen Premier Zoran Djindjic Blumen niederzulegen oder eine Kerze anzuzünden. Es ist kein Blumenmeer, und es ist zunächst auch kein Massenandrang. Zwischen Nelken, Rosen und Orchideen liegen Papierblätter. „Heute wurde auf Serbien geschossen", steht auf einem.

An der lauten Belgrader Hauptstraße Kneza Milosa bleiben vor allem junge Leute ergriffen stehen, wirken bedrückt oder beginnen zu weinen. „Er war meine große Hoffnung", sagt Dusan Zlokolica. Der 18-jährige Schüler, im Trenchcoat und mit Zopf und Kotletten, sonst wohl eher ein cooler Typ, hat gerade eine rote Rose für Djindjic niedergelegt und ist sichtbar bewegt. „Ich hoffe, dass die Regierung nach dieser Gewalttat nun endlich gegen die Mafia vorgeht", sagt er. Sonst, fürchtet er, könnten finstere Kräfte wieder die Oberhand gewinnen.

Ein anderer junger Mann ist wütend und poltert los: „Mich erstaunt das nicht. Das ist Serbien.“ Zehn Jahre Milosevic-Regime, das könne sich eben nicht über Nacht verändern, ist er überzeugt. Ihn habe die frühere Regierung schon mit 19 Jahren in die Armee geholt und zum Töten ins Kosovo geschickt. „Ich hatte gehofft, dass wir auch in unserem Land endlich einfach mal ein normales Leben führen", sagt er voller Resignation.

Die meisten Belgrader sind entsetzt und schockiert über die Bluttat. Alle bewegt vor allem die Sorge, wie sich die politische Lage in den nächsten Wochen entwickeln wird. Die Zeitungen sind schnell ausverkauft. Der Anschlag sei ein „Versuch, den Lauf der Geschichte zu ändern", schreibt die „Politika". Die Presse erinnert auch an die vielen Attentate der vergangenen Jahre, die bis heute nicht aufgeklärt sind. Die Rundfunksender senden fast nur noch Nachrichten und klassische Musik. In Serbien herrscht drei Tage lang Staatstrauer.

Das serbische Parlament trat am Vormittag zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen und wurde über den am Vortag verhängten Ausnahmezustand informiert. Verdächtige können 30 Tage lang ohne Richterbeschluss festgehalten werden. Die Polizei hat größere Befugnisse, Telefone zu überwachen. Bewaffnete Polizeikräfte sind zwar an vielen Stellen der Stadt präsent, aber nicht deutlich mehr als bei hohen Staatsbesuchen. Auch die Pressefreiheit wurde eingeschränkt. In den Redaktionen blieb zunächst unklar, was das für die Berichterstattung bedeuten wird. Verboten sind Artikel, in denen Gestalten aus der Unterwelt verherrlicht werden. Berichte sollen sich vor allem auf staatliche Informationen stützen.

Einen Tag vor dem Anschlag hatte die in kleiner Auflage erscheinende nationalistische Zeitung „Identitet" die Schlagzeile: „Djindjic Ziel eines Heckenschützen". Das Blatt schrieb, „Haager Serben" hätten einen Anschlag bestellt. In Den Haag stehen Vertreter des Milosevic-Regimes und der Ex-Diktator selbst vor Gericht.

Gemma Pörzgen[Belgrad]

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