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Altes Thema, neuer Schwung: Alexis Tsipras, seit Anfang 2015 Ministerpräsident in Athen, verlangt die Rückzahlung des NS-Zwangskredits.

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Entschädigungsstreit zwischen Berlin und Athen: Historiker: Warum Deutschland Griechenland Geld schuldet

Hagen Fleischer ist seit 1977 als deutscher Historiker in Athen. Und findet wie Regierungschef Alexis Tsipras, Berlin sei bis heute die Rückzahlung eines NS-Kredits schuldig. Die Geschichte einer Ansicht.

Alles fing damit an, dass der Student Hagen Fleischer, der an der Freien Universität Berlin Publizistik und Geschichte studierte, in einem Antijunta-Komitee die junge griechische Biochemikerin Eleni traf. Das war Ende 1967. Im April jenen Jahres hatte das Militär die griechische Demokratie ausgehebelt. Manche der nun regierenden griechischen Obristen waren während der Zeit der Nazibesatzung zudem Kollaborateure gewesen – was ihnen bei einigen bundesrepublikanischen Funktionsträgern regelrechte Sympathien einbrachte, aber natürlich nicht an der FU.

Fleischer war nicht nur aus politischem, sondern auch aus historischem Interesse zu dem Antijunta-Komitee gekommen. Er interessierte sich schon immer für die Spur, die Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg durch Europa gezogen hatte. Promovieren wollte er darüber. Sein ursprüngliches Interesse galt Dänemark, was an dem dänischen Pastor Kaj Munk lag. Der hatte gegen die Nazis mobil gemacht, war deshalb von der SS kurzerhand erschossen worden, und doch kamen am 8. Januar 1944 rund 3000 Dänen zu seiner Beerdigung, die so den Charakter einer Widerstandsaktion erhielt. „Das war der Tag, an dem ich geboren wurde, und ich empfand das als persönliche Verpflichtung“, sagt Fleischer.

Die Fragen hören nicht auf - im Gegenteil

Doch dann kam Eleni – und er verlagerte seinen Forschungsschwerpunkt von Nord nach Süd. Sein Doktorvater, ein Skandinavienspezialist, sei entsetzt gewesen und habe ihn angewiesen, sich einen anderen Betreuer zu suchen, doch neugriechische Geschichte war im Deutschland der 1970er Jahre nahezu unbekannt. „So betreute mich mein Doktorvater eben weiter – missmutig, wie ein Pflichtverteidiger vor Gericht.“ Der Grundstein für eine Karriere wurde trotzdem daraus.

Hagen Fleischer ist seit 2011 emeritiert, die Anfragen an ihn hörten damit nicht auf.
Hagen Fleischer ist seit 2011 emeritiert, die Anfragen an ihn hörten damit nicht auf.

© Theodora Mavropoulos

Hagen Fleischer, Jahrgang 1944, sitzt in der Caféteria des Athener Goethe-Instituts im Zentrum der Stadt. Der hochgewachsene Mann mit dem freundlichen Lächeln ist hier ein häufiger Gast. Er trifft sich zu Gesprächen oder hält Vorträge, gleichermaßen in Deutsch oder Griechisch. Er hat Eleni, die Biochemikerin, geheiratet und lebt seit 1977 in Griechenland, wo er an der Athener Akademie der Wissenschaften, der Universität Kreta und an der Universität Athen als Professor für Neuere Geschichte – Schwerpunkt Griechische Geschichte des 20. Jahrhunderts – tätig war, bis er 2011 emeritiert wurde. Die Fragen an ihn hörten damit aber nicht auf, denn sein Forschungsschwerpunkt lautet: die nationalsozialistische Besatzungspolitik und das Erbe des Zweiten Weltkriegs in Griechenland. Und seit dort im Januar die linke Syriza-Partei gewählt wurde und Alexis Tsipras nachdrücklich Entschädigungszahlungen von Deutschland fordert, rückt Fleischer immer wieder ins Medienlicht. Unter anderem auf ihn könnte der neue Regierungschef sich stützen mit seiner Ansicht, Berlin schulde Athen noch die Rückzahlung eines NS-Zwangskredits.

Die Militärs kontrollierten die Geschichtsschreibung

Dass die Erforschung dieser Angelegenheit mehr als schwierig ist, weiß Fleischer aus eigener wissenschaftlicher Arbeit. Schon bei der Recherche zu seiner Doktorarbeit bemerkte er das. Nach dem Abzug der Wehrmacht war in Griechenland der offene Bürgerkrieg eskaliert, zu dessen Verlierern die Anhänger des linken Widerstands zählten. Die ehemaligen Kollaborateure der Besatzer wurden in die Gruppe der Sieger integriert, und die offizielle Geschichtsschreibung wurde die nächsten Jahrzehnte lang von der Militärdiktatur kontrolliert. Der Berliner Doktorand Fleischer fand dementsprechend viel Material nur über Umwege, die Archive waren „gesäubert“ oder unzugänglich, linke Publikationen auf der Verbotsliste, linke Zeitzeugen im Gefängnis oder im Exil, meistens im Ostblock.

Erst als die sozialistische Pasok-Partei 1981 mit absoluter Mehrheit die Parlamentswahlen gewann, änderte sich das. Nach der Jahrtausendwende habe ein bis heute anhaltender Historikerstreit unter Mitwirkung der Parteipolitik begonnen, sagt Fleischer. „Eben deswegen habe ich stets Angebote abgelehnt, als Abgeordneter zu kandidieren.“ Was ihm möglich gewesen wäre, da er auch die griechische Staatsangehörigkeit hat. Er habe sich seine Unabhängigkeit bewahren wollen. Was bei dem Thema schwer genug war und ist. Das geht schon in seiner Familie los. Sein Schwiegervater stammt aus der Gegend von Kalavryta, wo im Dezember 1943 von den Deutschen 700 Griechen exekutiert worden waren, und hatte anfangs so seine Meinung zum Schwiegersohn in spe. Und auch bei seinen Gesprächen mit Zeitzeugen schlug Fleischer hier und da Misstrauen entgegen.

Deutschlands Tricksereien gegenüber Athen: Wie aus einem Zu-früh ein Zu-spät wurde

Altes Thema, neuer Schwung: Alexis Tsipras, seit Anfang 2015 Ministerpräsident in Athen, verlangt die Rückzahlung des NS-Zwangskredits.
Altes Thema, neuer Schwung: Alexis Tsipras, seit Anfang 2015 Ministerpräsident in Athen, verlangt die Rückzahlung des NS-Zwangskredits.

© dpa

Die tiefe Erschütterung spiegelt sich auch in den politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland wider, die Fleischer als Berg- und Talfahrt beschreibt. Immer wieder gab es Streit, wie zum Beispiel 1974 Athens grollenden Teilaustritt aus der Nato, zu der es seit 1952 gehörte, weil man sich durch die Allianz in Streitigkeiten mit dem Partnerstaat Türkei nicht ausreichend unterstützt fühlte. Andere langwierige Streitigkeiten betrafen die Namensgebung von Mazedonien und ganz allgemein die postjugoslawischen Kriege, es ging um die Bombardierung Belgrads durch die Nato und natürlich um die Entschädigungsforderungen. Griechenland hat von allen nichtslawischen Ländern mit Abstand die höchsten Verluste an Menschenleben und Material erlitten. Das Thema ist ein bilateraler Dauerbrenner von wechselnder Intensität. Gerade jetzt ist es wieder besonders heiß.„Welches Volk kann vorwärts gehen, wenn es sein kollektives Gedächtnis ausblendet und begangene historische Gräueltat und deren Opfer in Vergessenheit geraten lässt?“, fragte Alexis Tsipras am 10. März im griechischen Parlament und forderte erneut und nachdrücklich hohe Entschädigungszahlungen von Deutschland.

Schon 1945 erhob Griechenland seine Forderungen

War das ein guter Zeitpunkt? Fleischer hält kurz inne. Nein, ein denkbar schlechter. Doch Griechenland wartete in der Vergangenheit immer auf einen „günstigen Zeitpunkt“, der nie kam. Der deutsche Medienkonsens lautet, dass Tsipras gerade jetzt nach dem Geld frage, weil sein Land so gut wie pleite sei. Aber, so Fleischer, in Deutschland werde kaum betont, dass Griechenland Entschädigungsforderungen jeglicher Art bereits im Dezember 1945 stellte, als die Alliierte Reparationskonferenz in Paris begann – für den Besatzungskredit, Reparationen, entführte Altertümer, Wiedergutmachung für Opfergemeinden und die jüdische Bevölkerung Griechenlands. Damals gab es aber noch keinen deutschen Staat, also keinen Adressaten für die Forderung. 1949, als die BRD und die DDR gegründet wurden, winkten die Deutschen ab und arbeiteten mit Hinhaltetaktik.

„Ich habe Aktenstücke aus dem diplomatischen Verkehr der BRD dazu gefunden“, sagt Fleischer. In der Korrespondenz zwischen einem Botschafter und dem Reparationsexperten des Auswärtigen Amts heiße es zum Beispiel 1969: Der Zwischenzustand der Nichtexistenz eines Friedensvertrags müsse so lange wie möglich hinauszögert werden, damit alle Forderungen der Gegenseite durch Zeitablauf einer Verjährung oder Verwirkung zugeführt würden. Noch 1988 habe die deutsche Botschaft in Athen auf eine griechische Anfrage geantwortet, das Thema sei wegen des Londoner Schuldenabkommens von 1953 nicht aktuell – einem mithilfe der USA erreichten Reparationsmoratorium, bei dem Deutschland von 22 Staaten, darunter Griechenland, die Hälfte der Schulden erlassen worden war.

Reue? Fehlanzeige

Das Thema der Kriegsentschädigungen sollte bis zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten aufgeschoben werden, denn die Besetzung Griechenlands sei ja vom gesamten Deutschland durchgeführt worden und der westdeutsche Teilstaat allein also nicht beschlussfähig. „Deutschland trickste hier also, um nicht zu zahlen“ – so wie auch 1990 mit dem 2+4-Abkommen, das den Krieg offiziell beendete, aber nicht Friedensvertrag genannt werden durfte. Fleischer lacht bitter. Bis 1990 habe Bonn immer betont, es sei zu früh für Verhandlungen, danach war es plötzlich zu spät, infolge des „Zeitablaufs“, auf den man jahrzehntelang bewusst hingearbeitet hatte. „Diese Tricksereien sind fundamental: mit dem Recht des Stärkeren zum Nachteil des Schwächeren“, urteilt Fleischer. Reue? Fehlanzeige. Und das, obwohl NS-Deutschland Griechenlands Wirtschaftspotenzial nachhaltig zerstört habe: die Restschulden des Griechenland auferlegten Zwangskredits aus der NS-Zeit, dazu die systematische Zerstörung der gesamten Infrastruktur gegen Ende der Besatzung, sofern die nicht schon kaputt war. Brücken, Häfen und Bahnlinien wurden gesprengt, die letzten Lokomotiven entführt oder in Schluchten gestürzt. Die wertvollen Bergwerke wurden geplündert, die Wälder abgeholzt oder verbrannt. Das waren mit die Hauptursachen für die epidemische Hungersnot. Mindestens 100 000 Griechen starben allein im ersten Besatzungswinter an Hunger. Als die Deutschen abzogen, litt jeder Dritte in Griechenland an epidemischen Infektionskrankheiten. Hinzu kam der abrupte Absturz der Geburtenrate. Griechenland war am Boden. „Das konnte so schnell nicht wieder aufgebaut werden und wirkte sich natürlich auf die Wettbewerbsfähigkeit aus“, sagt Fleischer.

Der Streit lässt alte Feindseligkeiten aufflammen - in beiden Ländern

Altes Thema, neuer Schwung: Alexis Tsipras, seit Anfang 2015 Ministerpräsident in Athen, verlangt die Rückzahlung des NS-Zwangskredits.
Altes Thema, neuer Schwung: Alexis Tsipras, seit Anfang 2015 Ministerpräsident in Athen, verlangt die Rückzahlung des NS-Zwangskredits.

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In den 1960ern zahlte Deutschland 115 Millionen D-Mark nach Griechenland, das primär für die jüdischen Griechen bestimmt war. Dann kam nichts mehr. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde das Thema Entschädigungszahlung wieder aktuell. „Ich hielt damals an der deutschen Schule Athen einen Vortrag zum Jahrestag der Kapitulation Deutschlands“, erinnert sich Fleischer. „Der deutsche Botschafter war auch da.“ Fleischer ergriff am Rande die Gelegenheit und fragte ihn ganz konkret, ob er die deutsche Haltung in der Reparationsfrage präzisieren könne. „Und da meinte der Botschafter nur: Das ist ganz einfach. Wir wollen nicht zahlen.“ Fleischer schüttelt den Kopf. Der Botschafter habe sich noch einmal umgedreht. Fleischer solle ihn auf keinen Fall zitieren. Und so nennt er keinen Namen. Aber dass ein deutscher Botschafter so etwas so deutlich sage, habe ihn schon beeindruckt. Die Position Deutschlands wurde aber auch auf offizieller Seite deutlich. Das Thema Reparationen sei vom Tisch, wurde mehrfach klargemacht. „Die Anträge von Zigtausenden griechischer Nazi-Opfer Mitte der 1990er Jahre wurden der griechischen Botschaft in Berlin paketeweise zurückgeschickt.“ Fleischer klatscht in die Hände – einfach so.

Auch Rot-Grün wies die Athener mit ihren Forderungen ab

2001 und 2002 startete die sozialistische Regierung unter Konstantinos Simitis erneut einen Versuch, weil damals die rot-grüne Bundesregierung an der Macht war. Diese hatte Griechenland noch vor 1998 Hoffnung gemacht, erinnert sich Fleischer. Wenn der konservative Bundeskanzler Helmut Kohl erst mal abgewählt sei, sollte sich eine diplomatische Lösung finden. Allerdings nicht unter dem Etikett Reparation oder Wiedergutmachung, um keinen Präzedenzfall heraufzubeschwören und zu riskieren, dass sich dann zig andere Staaten mit weiteren Forderungen melden. Bei einem Gespräch von Simitis, Fischer und Schröder wurde der Antrag überreicht – und wieder abgelehnt. „Ich bekam das direkt mit, weil ich in der griechischen Reparationskommission saß“, sagt der Historiker.

Für seine Position, Deutschland müsse zumindest den sogar von den Nazis anerkannten und berechneten Besatzungskredit zurückzahlen, bekommt Fleischer feindseliges Feedback. Er erhalte aus Deutschland aggressive E-Mails, und die Online-Kommentare unter Zeitungsinterviews seien geradezu erschütternd. Aber auch auf griechischer Seite fehlt es nicht an Anfeindungen, die ihn eines „doppelten Spiels“ zugunsten der Bundesrepublik verdächtigen, wenn er zum Beispiel im griechischen Fernsehen sagt, dass nicht jener der beste Patriot sei, der die höchsten Entschädigungen fordert und das Duo Merkel- Schäuble in Karikaturen am übelsten verunglimpft.

Wie also steht es Fleischers Meinung nach um die Beziehung beider Länder?

Deutschland führe sich "schulmeisterlich" auf, beklagt Fleischer

Deutschland führe sich gegenüber Griechenland immer noch schulmeisterlich auf, kritisiert er. „Macht eure Hausaufgaben“, werde den Griechen von Finanzminister Wolfgang Schäuble oder dem CDU/CSU-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Volker Kauder gesagt. Bei Staatsbesuchen in Ländern, die unter den Nazis gelitten haben, werde von deutscher Seite immer versichert, man habe aus der Geschichte gelernt. Doch dann sei da zugleich noch immer „dieser deutsche Ordnungsauftrag“: den habe Hitler höchstpersönlich noch zwei Wochen vor Abzug der deutschen Truppen aus Griechenland betont. Es gebe Länder wie Griechenland, die um nichts in der Welt alleine in Ordnung halten können, habe Hitler damals gesagt. Bis heute komme es deshalb bei deutschen Übergriffigkeiten „zu empfindlichen Déjà-vu-Effekten“, sagt Fleischer.

Woran sich außerdem wenig geändert habe: Bis heute sei die jüngere griechische Geschichte in der deutschen Wissenschaft ebenso unterbesetzt wie sich in Griechenland kaum ein Experte für den Zweiten Weltkrieg finden lässt. So liege die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der deutsch-griechischen Vergangenheit beiderseits noch im Argen, bedauert Fleischer. Er sei, aus Berlin kommend, der Erste gewesen, der ab 1980 an griechischen Hochschulen über diese Zeit lehrte. Viel hänge nun von der jungen Generation ab, „aber bis heute gibt es an der Universität Athen, immerhin der größten Uni des Landes, nach meiner Emeritierung keinen Nachfolger im Fachbereich Geschichte mit dem Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg.“ Zwar gebe es zahlreiche hoffnungsvolle junge Historiker, darunter auch ehemalige Schüler von ihm, doch seien Neueinstellungen angesichts der allgemeinen Finanzkrise kaum möglich.

Zwischen allen Stühlen - bis heute

„Als Deutschgrieche mühe ich mich, dazu beizutragen, dass mein erstes Heimatland historisch und moralisch ins Reine kommt mit meiner zweiten Heimat Griechenland“, sagt Fleischer, und: „Da gibt es leider noch viel Nachholbedarf.“ Beide Seiten müssten sich flexibler zeigen. Doch zuerst müsse Deutschland seine Mauertaktik aufgeben und damit den Griechen die Gelegenheit geben, verbal abzurüsten. „Bis dahin sitze ich weiterhin zwischen den Stühlen“, sagt Fleischer. Bequem gemacht hat er es sich nicht und den anderen ebenso wenig – das war auch nie sein Anliegen.

Theodora Mavropoulos[Athen]

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