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Politik: Homo-Ehe: Von Generation zu Generation wird die Liebe weniger

Die CDU/CSU hat die "Schwulen-Ehe" zu einer der Fronten erklärt, an denen sie gegen die Regierungskoalition in den Kampf ziehen will. Da darf man gespannt sein.

Die CDU/CSU hat die "Schwulen-Ehe" zu einer der Fronten erklärt, an denen sie gegen die Regierungskoalition in den Kampf ziehen will. Da darf man gespannt sein. Wird es gelingen, in der Konsens-Gesellschaft einen ordentlichen Streit vom Zaun zu brechen? Leicht hat es die Opposition nicht. Denn darüber, dass gleichgeschlechtliche Paare rechtlich besser gestellt werden sollen, herrscht über Parteigrenzen hinweg weitgehende Übereinstimmung. Unterschiede liegen nur darin, dass die Opposition privatrechtliche Lösungen vorzieht, während die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Dass die einen "gegen", die anderen "für" die Homosexuellen seien, kann daraus nicht geschlossen werden.

Angesichts von so viel Übereinstimmung darf man fragen, worüber eigentlich gestritten wird. Sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, scheint für die meisten Menschen ebenso schwierig wie belanglos. Und doch weckt der Disput Unbehagen. Er verweist auf kollektive Ängste, Probleme und Widersprüche der modernen Gesellschaft, die tiefer liegen als der aktuelle Anlass.

Minderheit und Avantgarde

Wenn die Ehe als "Verantwortungsgemeinschaft" von Konservativen wie von Homosexuellen (und bald nur noch von letzteren, wie böse Zungen behaupten) hochgehalten wird, wenn auch der Wert der Gleichberechtigung von allen Seiten geteilt wird, dann kann es sich bei der augenblicklichen Diskussion nicht wirklich um einen Konflikt der Werte handeln. Was liegt also näher, als hinter den Beteuerungen allgemeiner Werte je eigene Interessen zu vermuten? Den gleichgeschlechtlichen Paaren wird unterstellt, dass sie staatliche Versorgungs- und Sozialleistungen auf sich umleiten wollen, den Protagonisten von Ehe und Familie, dass sie die steuerlichen und sozialrechtlichen Privilegien verteidigen wollen, die nicht nur Eltern mit Kindern, sondern auch kinderlosen Eheleuten heutzutage zustehen. In einer Demokratie ist der Kampf der Interessen legitim. Allerdings verlaufen Interessen-Fronten manchmal ganz anders als auf den ersten Blick vermutet.

Die Homosexuellen, die sich, mit dem Tremolo der Minderheit, als sozial schwach und benachteiligt darstellen können, sind dies gerade nicht. Im Gegenteil: Zusammen mit andern Singles, unverheirateten Paaren und verheirateten kinderlosen Doppelverdienern kassieren sie die steigenden Prämien für Ungebundenheit, die die moderne Welt zahlt. Als Avantgarde ökonomischer Flexibilität, künstlerischer Freiheit, individualistischer Lebensstile, ausgefallener Konsummuster und aufwendiger Internationalität genießen sie die Privilegien, von denen kinderreiche Familien nur träumen können.

Natürlich gibt es, materiell gesehen, auch reiche Kinderreiche und arme Kinderarme. Aber im Verteilungskampf sind die Kinderarmen längst auf dem Weg zur numerischen und moralischen Mehrheit der Modernisierungsgewinner. Geschlecht spielt dabei in der Tat keine Rolle. Tüchtige Frauen und Männer gehen diesen Weg Arm in Arm mit den Meinungsmacher(innen) und klagen darüber, dass sie mit ihren Steuern kinderrreiche Familien finanzieren müssten. Das ist das Ziel der Familienpolitik. Tatsächlich aber zeigen differenzierte Berechnungen, dass sogar die neue Steuerreform Familien mit Kindern pro Kopf weniger entlastet als Singles. (Vgl. "Steuerreform belohnt Kinderlose", Tagesspiegel vom 21. 7. 2000). Die Prämierung der Kinderlosigkeit scheint sich, allen gegenläufigen guten Absichten zum Trotz, mit der Macht eines Naturgesetzes durchzusetzen.

Dass die Homosexuellen hier im Trend liegen, kann man ihnen nicht vorwerfen. Sie sind Teil einer großen Koalition der Modernisierungs-Profiteure. Dies erklärt, warum sie in der veröffentlichten Meinung, die sich an der Schönen Neuen Welt berauscht, eher offene Türen einrennen als Widerstand finden. Es erklärt aber auch, dass sich ein unterirdischer Groll ansammelt, den die CDU/CSU als Wasser auf ihre Mühlen lenken könnte. Oder sollte die Interessen-Analyse des Konfliktes den Kern des Problems überhaupt verfehlen? Wie, wenn es um etwas ginge, das im öffentlichen Diskurs kaum thematisierbar ist, aber die Menschen doch mehr bewegt als hehre Werte und Geldes Vorteil: dauerhafte Liebe?

Das Streben danach auf die geschlechtliche Natur des Menschen zurückzuführen, wäre zu einfach. Denn der Wunsch nach beständiger harmonischer Partnerschaft formt und steigert sich erst in den Individualitäten der modernen Welt. Gelegenheiten für Beziehungen aller Art vervielfältigen sich. Aber in der Fülle unserer Beziehungen spiegeln wir uns immer nur mit Teilen unsrer selbst, als "Rollenträger", niemals ungeteilt, als In-dividuum. In der Vielfalt der Bindungen, der wir unsere Individualität verdanken, droht diese sich zu verlieren. Von daher das unstillbare Bestreben, die Mannigfaltigkeit in einer einzigen Bindung zusammenzuführen, in der alles sich vereint.

Marktpartner, Kollegen, Vorgesetzte sind dazu ungeeignet, weil mit ihnen sachliche Dinge sachlich verhandelt werden. Arzt, Therapeut oder Pastor können zwar Leibseelisch-Intimes behandeln, aber nicht intim, sondern nur sachlich. Vater oder Mutter mögen für alles sorgen, insbesondere für Geborgenheit, aber vor der letzten Intitmität steht das Inzest-Tabu. Auch Freundschaft findet ihre Grenze vor der zugleich verletzlichsten und verletzenden Innigkeit der Sexualität. Bleibt allein die erotische Paarbeziehung, in der alles Sinnliche und Sachliche seinen Platz haben kann. So soll es sein. Dennoch ist auch in dieser Beziehung nicht alles erlaubt und nicht alles möglich. Die Totalität der sozialen Welt in einer einzigen Beziehung vereinen zu wollen, darin liegt eine unheilbar romantische Überforderung.

Doch die erotische und dauerhafte Partnerschaft ist die einzige Sozialbeziehung, an der der Traum von der Ganzheit der sozialen Welt Halt findet. In ihm erträumt sich das Allgemeinste als das Individuellste, als die Beziehung von Individuum zu Indiviuum - als geschlechtliche Beziehung. Es ist der ständig sich wiederholende, ununterdrückbare Gründungstraum des individualistischen Zeitalters. Als moderne Menschen wollen die Homosexuellen daran teilhaben. Als erotische Menschen können sie es. Denn der Traum von der Einheit der Welt kann nicht ungeschlechtlich, aber sowohl gleich- wie gegengeschlechtlich geträumt werden.

Früher war Heirat aus Liebe ein Skandal

So sehr Individualisierung nach Liebe sucht, so sehr steht sie ihr im Wege: Je mehr wir unsere Persönlichkeit als besondere, mit niemand sonst geteilte empfinden, desto mehr verlangen wir nach Ergänzung durch das, was wir nicht sein können; je mehr aber auch die möglichen Partner(innen) einzigartig sein sollen und wollen, desto unmöglicher wird es, aus beiden Individuen ein einzigartig übereinstimmendes Ganzes zu machen. Georg Simmel sah deshalb in der erotischen Liebe "die reinste Tragik: Sie entzündet sich nur an der Individualität und zerbricht an der Unüberwindlichkeit der Individualität". Nur in der Phase der Verliebtheit, in der man - "Liebe macht blind" - die un(v)erträgliche Individualität des Andern noch nicht ganz kennt und die Wissenslücke mit Wunschbildern füllt, lässt sich die Tragik überspielen: durch Illusion.

Bis ins 18. Jahrhundert war die Heirat aus Liebe ein Skandal. Heute ist sie ein Gebot. Welch eine Torheit der Moderne, dauerhafte Bindung auf das stürmischste und windigste Gefühl gründen zu wollen! Aber niemand kann das ändern: Dahinter steht das individualistische Verlangen nach Ganzheit. Da wir die Ehe heute auf erotischer Liebe bauen, die Liebe aber eine tragische Bindung ist, ist die Tragik in Ehe und Familie eingebaut. Je mehr wir nach lebenslanger - also immer längerer - Liebe und Leidenschaft verlangen, je mehr wir unsere Ansprüche an Harmonie steigern, desto sicherer sind Scheidungen vorprogrammiert. Was den hoch zivilisierten Gesellschaften an militärischen und Bürger-Kriegen - vielleicht - erspart bleibt, zahlen sich ihre Bürger als Männer und Frauen in Ehe-Kriegen heim. In kleiner Münze - aber nicht weniger vernichtend. Die Hälfte aller Morde und Totschläge wird in intimen Beziehungen und unter Verwandten verübt.

Gleichwohl: Gewalt spielt nur im kleinsten Teil aller Scheidungen mit. Und geschieden wird nur der kleinere Teil der Ehen. Hinter den steigenden Scheidungsziffern steht nicht Egoismus, sondern ein Bündel von soziologischen Tatbeständen im Wandel: die steigenden Erwartungen an die Liebe; die institutionalisierte Erleichterung der Scheidung; die Tatsache, dass die Ehe unter Gleichen ihren eigenen tragischen Konflikten ohne innere oder äußere Entscheidungsinstanz ausgeliefert ist (nichts ist an die Stelle des diskreditierten Patriarchats getreten); andererseits die Tatsache, dass die Verheißungen der Gleichheit in der Ehe nicht eingelöst werden; schließlich die Chance, eine nächste, bessere Partnerschaft einzugehen (deshalb steigt das Scheidungsbegehren mit der individuellen Vitalität, Lebenserwartung und Paarungshoffnung der Beteiligten).

Angesichts der sich verstärkenden tragischen Grundstruktur der Liebesehe sind nicht so sehr Gewalt, Scheidungen und Trennungen erklärungsbedürftig. Das eigentliche "Wunder der Ehe" liegt vielmehr darin, dass sie die Tragik aushält: Die meisten Ehen dauern heute länger als früher; in keiner anderen Lebenssphäre fühlen sich moderne Menschen, wie die Umfragen zeigen, so zufrieden und glücklich wie in Ehe und Familie; die Ideale harmonischer Partnerschaft, mit oder ohne Trauschein, werden von Alt und Jung geteilt; ja sogar die alte Tugend der Treue, die vor 30 Jahren im Orkus der "offenen Ehe" zu versinken schien, ist mit der nachfolgenden Generation wieder aufgetaucht. Kein Wunder, dass auch die Homosexuellen ihre Ehe haben wollen.

Mehr Realisten als Romantiker

Dass die Ehe, ihrer eingebauten Tragik zum Trotz, so robust ist, liegt vielleicht daran, dass sie doch nach wie vor mehr durch Zwänge, Gewohnheiten und Bequemlichkeiten - gemeinsame Kinder, Güter, Gelder, Freunde, Sorgen, Vorsorgen und Erinnerungen - zusammengehalten wird als durch Liebe. Der Romantik des Anfangs wird durch die Realität der Gewohnheit der Garaus gemacht - und gerade dadurch Haltbarkeit gegeben. Die meisten Menschen sind auf die Dauer doch mehr Realisten als Romantiker, verarbeiten die Tragik der Liebe zu der Lebensweisheit, dass es nichts Vollkommenes gibt - und geben das Ganze an die nächste Generation der Brautleute weiter.

Daran, dass auch Homosexuelle mit Brautstrauß erscheinen, wird man sich gewöhnen. Beunruhigend ist nicht so sehr, dass etwas Neues auftaucht, sondern dass das Gewohnte, die Liebesehe, in rätselhaftem Zwielicht als verletzbar und zugleich beständig aufscheint: fragil als individuelle Bindung, stabil, ja attraktiv als Institution. Es gehört zu den Ironien des Vorgangs, dass die Homosexuellen sich von der gesetzlich sanktionierten Verantwortungsgemeinschaft, also dem Schritt in Richtung Ehe, eine Stabilisierung ihrer Bindungen versprechen, während auf der andern Seite, zumindest untergründig, die Angst umgeht, dass die Unverbindlichkeit weiter in die Ehe vordringe. Der Hinweis, dass "normale" Ehe und wechselnde Partnerschaften der Schwulen sich aufeinander annähern, ist nicht gerade geeignet, die Angst zu verringern.

Dahinter meldet sich eine noch größere Angst: dass Ehen Ehen bleiben - und nicht zu Familien anwachsen. Diese Angst ist es, die vom Bild der gleichgeschlechtlichen Ehe geschürt wird. Sie steht für Kinderlosigkeit - und dieses Argument wird auch gegen sie ins Feld geführt. Automatisch folgt die Erwiderung, die Ehe bleibe immer häufiger ohne Kinder. Der Schlagabtausch, in dem es vordergründig um Fortpflanzung geht, schürt untergründige Verlustängste.

Denn mit den Kindern, die von Generation zu Generation weniger geboren werden, geht weit mehr verloren als der Nutzen, den wir aus ihnen als spätere Arbeitskräfte, Steuerzahler, Sozialbeitragszahler und Betreuer alter Eltern ziehen: Es entweicht aus den modernen Gesellschaften auch die Jugend und damit die erotische Kraft, ohne die es weder homosexuelle noch heterosexuelle Paare gibt. Von Generation zu Generation wird die Liebe in der Gesellschaft weniger. Nicht etwa, weil sie in den einzelnen Paaren und Familien schwächer würde - im Gegenteil, deren "emotionales Binnenklima" erwärmt sich weiter -, sondern weil die Zahl der Liebespaare abnimmt und die Familien kleiner werden.

Die Liebe im Paar kann nicht im Paar selbst entstehen, sondern nur in einem Paar, das ihm vorangeht. Und sie kann nur weitergegeben werden als Liebe zwischen Eltern und Kindern. Elternliebe und Paaresliebe, die wieder zur Elternliebe wird, sind untrennbar. Selbst wenn wir annehmen, es gäbe sie nicht: Wo sonst sollten wir die Zärtlichkeit, Hingabe, Leidenschaft, latente Gewalt und Zurücknahme - kurz: alles, was in die sexuelle Liebe eingeht - lernen, wenn nicht, in sublimierter Form, von den Eltern? Wir lernen nicht nur in der direkten Weitergabe, sondern auch, mittelbar, durch die gegenseitige Liebe der Eltern und anderer, die uns nahestehn. So erleben wir in dem, was wir als unsere eigene, individuelle Paarliebe verstehn, die Vor-Lieben und Vor-Leiden von Generationen - und tragen sie weiter.

Wenn wir sie weitertragen. Es gehört zur Tragik moderner Gesellschaften mit all ihrem Wohlstand und Weiterdrängen, dass der Fluss der Generationen immer schmaler wird. Die Menschen, die doch alle Vater und Mutter haben, werden immer weniger selbst Vater und Mutter. Damit werden sie schuldig vor einem Gesetz, das sie, wie Kafkas Helden, unwissend, unschuldig suchend in sich tragen: dem Gesetz der Gegenseitigkeit als dem tiefsten moralischen Regulativ des sozialen Lebens. Alle Gerechtigkeit entspringt diesem Gesetz: "Wie du mir, so ich dir." Im Generationenverbund reicht es nicht aus, dass wir an die zurückgeben, von denen wir empfangen haben; wir müssen weitergeben. Die Ökologen haben ja recht: "Wir müssen die Erde an unsere Kinder weitergeben". Nur die Erde? Das wäre ohne Sinn, würden wir ihnen nicht das eigene Leben weitergeben: "Wie ihr Eltern uns Kindern das Leben gegeben habt, so müssen wir es als Eltern an unsere Kinder weitergeben." Ohne diese moralische Verpflichtung, die jedem Vertrag vorgeht, gäbe es keinen Generationenvertrag.

Die Gesellschaft bindet auch die ein, die als einzelne, die existenzielle Grundnorm sozialen Lebens nicht erfüllen. Sie nicht erfüllen zu können, empfinden viele als großen Schmerz. Was geben, was gäben sie darum, Kinder zu haben! Die Zahl und Stärke der Adoptions-Begehren zeugt davon. Die Reproduktionsmedizin ist die nächste Hoffnung. Diese Dinge werden oft verdrängt oder umgebogen - "Kinder? Nein danke!" - und in Diskussionen kaum angerührt, allenfalls ins Lächerliche gezogen. Das Beschweigen kann Schmerzvermeidung sein: Schonung besonders derjenigen, die keine Kinder bekommen. Wieviel hetero- und homosexuelle Paare in diesem Leid verbunden sind, wissen wir nicht. Sie sind Abweichler wider Willen.

Sie sind ohne Schuld - aber in den Untergründen, in denen unser Willen und unser Bewusstsein ihre Macht verloren haben, geben wir ihnen vielleicht doch Schuld: Die Schuld, willentlich oder nicht, das Gegenseitigkeits-Gesetz zwischen den Generationen zu verletzen. Kann das Problem dadurch entschärft werden, dass die Mehrheit sich der Minderheit angleicht? Wenn die meisten nur noch ein oder gar kein Kind haben, dann hört Kinderlosigkeit auf, Makel einer Minderheit zu sein. "Kein Thema!" - besonders für junge Leute, die sich in einer Welt gleichwertiger und selbstgewählter Lebensformen wähnen. Aber sind diese wirklich gleich wertig und selbst gewählt? Lässt sich das moralische Gesetz der Reziprozität einfach durch individuelle Entscheidung außer Kraft setzen? So will es eine quasi offizielle Ethik der Modernität. Sie verdrängt mehr als sie weiß. Als Erfüllungsgehilfe ökonomischer Dynamik zwingt sie die Menschen dazu, allseits flexibel und verfügbar zu sein. Zwänge werden umdefiniert in Werte wie Freiheit, Leistung, Gleichberechtigung, Toleranz. Deren Steigerung und die Steigerung der Produktivität sind zwei Seiten einer Medaille.

Was bei der Medaillen-Jagd auf der Strecke bleibt? Reproduktivität. Vor die Wahl gestellt - zwischen den Verheißungen von Bildung, Beruf und Weltläufigkeit einerseits und Familiengründung andererseits - entscheiden sich junge Menschen zunächst für das Erstere. Ist das, wie sie meinen, eine freie individuelle Entscheidung? Sie schwimmen damit im breiten Strom kollektiver Norm-Zwänge. Könnten sie anders? Zwar hält sich der Mehrheitswunsch, zwei Kinder in der Geborgenheit einer Familie zu haben, ebenfalls mit der Hartnäckigkeit einer Norm, aber Bildungs- und Berufskarriere drängen sich vor - mit dem statistischen Ergebnis, dass nur 1,3 Kinder pro Paar geboren werden. Die Geburtenlücke wird von denselben Wirtschaftsführern und Politikern beklagt, die uns alle zu immer höheren Berufsleistungen anspornen.

Wärme und Wechselseitigkeit

Es ist diese Widersprüchlichkeit zwischen den produktiven und reproduktiven Kräften der modernen Gesellschaft, die die Familie auszehrt, und nicht das Gleichstellungsbegehren der Homosexuellen. Ihnen gegenüber wird die Familie nun an einer Front verteidigt, von der ihr gar keine Gefahr droht. Wenn es eine Gefahr für die Familie gibt, dann liegt sie nicht bei einzelnen oder Gruppen, die von der Norm abweichen, sondern in der Normalität selbst: Zwischen den Mahlsteinen der Modernen mit ihren Werten wie Leistung und Gleichberechtigung wird die Familie kleingerieben.

Kann uns, als Individuen, dies nicht gleichgültig sein - zumal gerade die kleine Familie eine besondere Wärme spendet? Auch als Individuen sind und bleiben wir in besonderer Weise die Geschöpfe der engen und der weiteren sozialen Kreise, denen wir unsere Individualität verdanken; auch in individueller Selbstbezogenheit bleibt unsere Existenz eine durch und durch soziale; auch im individuellen Altern bleiben wir angewiesen auf die Kontinuität des kollektiven Lebens. Die Ängste, dass dieses in der Kinderlosigkeit versiege, sind rationale Ängste. Zwar können wir die Homosexuellen rational dafür nicht verantwortlich machen. Aber ihre Kinderlosigkeit, die in der aktuellen Diskussion als Hauptargument der Zurückweisung dient, wird zum Symbol eines Versagens, ja einer Schuld, die die moderne Gesellschaft im Innersten als eine eigene fühlt, sich jedoch nicht eingestehen kann. Indem sie sie auf eine Minderheit projiziert, schafft sie sich einen Sündenbock, der, beladen mit der Schuld des Ganzen, in die Wüste gejagt wird. Dass die Diskussion um die Homosexuellen-Ehe so weit führt, ist allerdings nicht zu befürchten. Der Streit könnte vielmehr, indem er die hohlen Phrasen zu "Ehe und Familie" mit realen Einsichten durchsticht, neues Feuer unter eine Familienpolitik machen, die sich im Konventionellen und Halbherzigen eingerichtet hat.

Karl Otto Hondrich

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