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Politik: Ich werde leben

Wie es in dem „Schutthaufen bei Potsdam“ war

In einem Offizierskasino in Karlshorst wird die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. In Wedding bekommt der Kommunist Hans Scigalla von einem Rotarmisten den Befehl: „Du Bürgermeister!“ In Charlottenburg wird die erste Ehe nach Kriegsende geschlossen. Und das alles am 8. Mai 1945. Bald gibt es neue Lebensmittelkarten für fünf Kategorien: Schwerstarbeiter, Künstler, Wissenschaftler, sodann Arbeiter und Ingenieure, für Angestellte, Kinder und Nichtberufstätige. Stadtkommandant Bersarin bestimmt, dass Kartenstellen und Versorgungsämter entstehen. „Erwachsene deutscher Staatsangehörigkeit“ erhalten pro Tag 200 Gramm Brot, 25 Gramm Fleisch, 400 Gramm Kartoffeln, zehn Gramm Zucker, zehn Gramm Salz, zwei Gramm Kaffee. Kinder bekommen ein Gramm Kaffee weniger, Arbeiter, Angestellte und technisches Personal drei Gramm. Und fünf Gramm Fett dazu.

Aber woher nehmen?

An diesem 8. Mai 1945, der später in der DDR einige Jahre zum offiziellen Feier-„Tag der Befreiung“ werden sollte, bietet die Reichshauptstadt ein trostloses Bild. Bert Brecht nennt Berlin den „Schutthaufen bei Potsdam“. Von den etwa 245000 Gebäuden ist fast ein Fünftel zertrümmert oder schwer beschädigt. 600000 Wohnungen (von 1,5 Millionen) sind zerstört, weitere 100000 schwer beschädigt. Zwischen den Trümmern und in den Kellern leben noch etwa 2,3 Millionen Einwohner – gegenüber 4,3 Millionen vor dem Kriege –, zwei Drittel davon sind Frauen. „Die Berliner Bevölkerung sah ihre Lage mit gemischten Gefühlen“, schreibt der britische Historiker Antony Beevor in seinem Buch „Das Ende“, „Verbittert von Diebstahl und Vergewaltigungen, war sie doch zugleich erstaunt und dankbar, dass die Rote Armee sie so großzügig mit Essen versorgte. Die NS-Propaganda hatte prophezeit, die Russen würden sie systematisch aushungern. General Bersarin, der sich häufig unter die Deutschen mischte, die an den Feldküchen Schlange standen, und mit ihnen plauderte, war bei den Berlinern bald genauso beliebt wie bei seinen eigenen Leuten“. Die schenkten den Hungernden einerseits Brot und Suppe, beschlagnahmten andererseits für sie so begehrenswerte Dinge wie Uhren und Fahrräder. Beevor erzählt von einer verblüffenden Form der Lebenshilfe: Sowjetische Soldaten tauchten bei Hausfrauen mit einem Stück Fleisch auf und versprachen ihnen einen Anteil, wenn sie es für sie zubereiteten. Fast immer hatten sie Wodka dabei. Beim Essen wurde auf den Frieden getrunken, und stets bestanden die Soldaten auch darauf, einen Toast „auf die Damen“ auszubringen.

Die Damen waren oft genug die Opfer dieser Zeit zwischen Bangen und Hoffen. „Frau komm!“ war der gefürchtetste Befehl der oft genug betrunkenen Sieger. Hildegard Knef hat das in ihrem Buch „Der geschenkte Gaul“ beschrieben: „Sie sind wie die Tiere“, sagte seine Mutter unbeirrt, „die ersten, die in den Keller kamen, waren noch annehmbar, das waren wohl die Elitetruppen, aber dann… Der jungen Frau im Nebenhaus haben sie die Hand zerschossen; sie wollten Kartoffeln waschen und warfen sie in die Toilette, dann zogen sie an der Spülung, die Kartoffeln waren natürlich weg – Sabotage! brüllten sie und schossen herum“.

Auch noch nach 60 Jahren sind bei den früher Geborenen die Erinnerungen an jene Tage wach, bei denen es auch ohne Bomben und Granaten ums nackte Überleben ging, jeder hatte seine Geschichte. Hitlers Telefonist Rochus Misch, als letzter Überlebender aus der Besatzung des Führerbunkers heute (mit 87 Jahren) ein gefragter Zeitzeuge, war schon am 2. Mai am Stettiner Bahnhof gefangen genommen worden, am 8. Mai begannen für ihn in Landsberg an der Warthe die brutalen Verhöre als enger Mitarbeiter Adolf Hitlers, dessen Tod er seither Tausende Male geschildert hat. Unvergesslich ist für den Historiker Arnulf Baring jener 8. Mai – an diesem Tag ist er geboren, 1945 war sein 13. Geburtstag, „ein strahlender, warmer, wunderschöner Tag“. Die Russen feierten, sangen, einer spielte Harmonika. Sie saßen auf und neben ihrer Stalinorgel, die Furcht erweckend im Garten stand“. Das größte Geschenk für den heute 73-Jährigen war damals „die Stille. Diese Lautlosigkeit. Diese Ruhe. Tag für Tag, unter einem blauen Himmel. In der warmen Sonne sitzen und kaum noch Angst haben. Keine S- oder U-Bahn, keine Behörden, keine Polizei, Dienststellen, Ämter, Schulen, nichts. Nur zu Fuß, trotz des Hungers, alle Wege“.

Das sollte sich allmählich ändern. Am 13. Mai fahren die ersten Omnibusse, das Berliner Kammerorchester gibt sein erstes Konzert, am 14. Mai fährt der erste U-Bahn-Zug, die Verdunkelung wird aufgehoben und Radioapparate müssen nicht mehr bei den Ämtern abgegeben werden. In 17 Kinos flimmern die ersten – russischen – Filme über die Leinwand, am 15. Mai erscheint die „Tägliche Rundschau“, am 21. die „Berliner Zeitung“. Mit dem 17. Mai beginnt der erste Nachkriegsmagistrat unter dem parteilosen Architekten Arthur Werner seine Arbeit. Christa Ronke, die uns ihr Tagebuch dieser Zeit geschickt hat, kommt zurück in ihre Wohnung: „Die Haustür durchschossen, die Polster der Möbel aufgeschlitzt, sämtliche Spiegel kaputt, Schränke ausgeräumt und der Inhalt teilweise verschwunden.“ Aber: „Es ist Friede! Wie schön, nachts wieder ruhig zu schlafen und nicht mehr im Keller um das Leben zittern zu müssen. Ich bin jung und gesund und werde leben!“

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