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Politik: „Ich würde auch in ein Pflegeheim gehen“ Caritas-Generalsekretär Cremer über die Angst

vor dem Alter und die Folgen von Hartz IV

DER ÖKONOM

Der in Aachen geborene Georg Cremer (52) hat in Freiburg Volkswirtschaftslehre und Pädagogik studiert. Seit 1992 unterrichtet er Ökonomie an der Universität Freiburg.

DER SOZIALE

Im Zivildienst machte Cremer erste Erfahrungen mit sozialer Arbeit. Er betreute geistig Behinderte. Nach seiner Promotion leitete er ein Entwicklungsprojekt in Indonesien. Seit 1990 war er für die Katastrophenhilfe der Caritas in Asien zuständig. Seit 2000 ist er Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands.

DER KRITIKER

Ältere werden auf dem deutschen Arbeitsmarkt besonders diskriminiert, sagt Cremer. Und auch von Hartz IV profitierten sie nicht. Tsp

Haben Sie Angst vorm Pflegeheim?

Oh, das ist noch sehr weit weg. Ich wünsche mir, dass ich möglichst lange autonom in der eigenen Wohnung leben kann. Ich würde aber in ein Pflegeheim gehen, wenn ich zu gebrechlich wäre. Ich weiß ja, dass es sehr gute Heime gibt.

Andere haben da weniger Vertrauen. Eine Studie der Berliner Charité deutet darauf hin, dass Ältere Selbstmord begehen, auch weil sie Angst vorm Pflegeheim haben.

Sie müssen sich die Studie, bei der Abschiedsbriefe ausgewertet wurden, genau angucken. Für einen Selbstmord kann es viele Gründe geben. Viele Ältere sind depressiv, werden aber nicht behandelt, weil die Erkrankung unterschätzt wird. Die Studie sagt auch: Manche der Betroffenen wären in einem Heim besser betreut worden als im häuslichen Umfeld.

Warum werden die Depressionen unterschätzt?

Viele Ärzte halten Depression im Alter angesichts der Gebrechen für „normal“. Und dann unterbleibt eine angemessene medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung.

Wovor haben die Menschen Angst, wenn sie Angst vorm Alter haben?

Bei meiner eigenen Mutter habe ich erlebt, dass sie Angst vor dem Autonomieverlust hatte. Das ist ihr zum Glück erspart geblieben. Andere Menschen haben Angst vor Einsamkeit.

Das Leben im Pflegeheim stellen viele sich nicht rosig vor. Pfleger rennen mit Stoppuhr durch die Zimmer, während die Oma einsam und verwahrlost im Bett liegt …

Kein Wunder, dass Ängste entstehen, wenn Heime dämonisiert werden. Dabei sind die stationären Einrichtungen besser als ihr Ruf. Leider werden einzelne Vorkommnisse immer gleich skandalisiert.

Es gibt also gar keinen Grund zu klagen?

Natürlich ist die personelle Situation in den Heimen schwieriger geworden. Das Pflegepersonal ist überlastet. Aber es ist absolut unverantwortlich, die Situation in den Heimen als die „größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg“ zu bezeichnen, wie das kürzlich einer der Sozialverbände getan hat. Das vergiftet das Klima und schürt Ängste.

Was kann die Politik tun?

Der Gesetzgeber muss sich überlegen, wie Pflege in Zukunft finanziert werden soll. Seit der Einführung sind die Beiträge der Pflegeversicherung bei 1,7 Prozent gedeckelt. Eine alternde Gesellschaft wird zwangsläufig mehr Geld aufbringen müssen. Entweder hebt man die Beiträge an – oder man sucht neue Wege, wie man das Pflegerisiko im Alter absichern kann. Das kann auch durch eine ergänzende kapitalgedeckte Zusatzversicherung passieren.

Die finanziellen Reserven der Pflegekasse sind bald aufgebraucht.

Deshalb muss man auch sehr rasch über eine Reform nachdenken.

Die Regierung hat die Pflegereform vertagt.

Ich würde mir eine Reform noch in dieser Legislaturperiode wünschen. Aber ich bin da nicht sehr optimistisch.

Die Menschen gehen im Schnitt erst mit Mitte 80 ins Altenheim. Auf dem Arbeitsmarkt gehören sie aber schon mit Mitte 40 oder spätestens mit 50 zum alten Eisen.

Das ist eine erschreckende deutsche Sonderentwicklung. Nur 38 Prozent der 55- bis 64-Jährigen arbeiten. In vielen europäischen Ländern liegt der Anteil bei 50 oder 60 Prozent. Ältere Arbeitnehmer werden in Deutschland stärker diskriminiert als in anderen Ländern. Es ist ökonomischer Wahnsinn, wenn wir auf sie verzichten. Wenn sie nicht arbeiten, belasten sie die Sozialsysteme und fehlen als Beitragszahler. Viele Ältere wollen arbeiten, es muss ja nicht immer Vollzeit sein.

Warum geht Deutschland so viel schlechter mit seinen älteren Arbeitnehmern um?

Wir haben lange versucht, Arbeitsmarktprobleme zu lösen, indem wir Menschen jenseits der 55 in die Frühverrentung gedrängt haben. Die Politik hat den Unternehmen Freiraum gegeben, der zum Missbrauch eingeladen hat. Bei der Privatisierung der Post sind Massen qualifizierter Arbeitnehmer um die 50 in die Sozialsysteme gedrückt worden. Und heutzutage stehen wir in der Schlange vor schlecht besetzten Postschaltern. Auch die Gehaltsstrukturen tragen dazu bei, dass bevorzugt Jüngere eingestellt werden: weil die Älteren häufig deutlich mehr verdienen als ihre jüngeren Kollegen.

Mangelt es am guten Willen der Firmen?

Nicht nur. Einige Unternehmen setzen bereits auf einen angemessenen Altersmix, weil sie wissen, dass Ältere wertvolle Erfahrungen mitbringen. Damit Unternehmen ihre Einstellungspolitik ändern, sollte man auch überprüfen, ob Tarifverträge die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer erschweren. Im öffentlichen Dienst – an dem sich auch die Wohlfahrtspflege orientiert – ist es für den Arbeitgeber deutlich teurer, einen älteren Arbeitnehmer mit Familie einzustellen als einen ledigen Jüngeren. Soziale Zuschläge gehören ins Steuersystem, sie dürfen nicht den Arbeitgebern aufgebürdet werden.

Wird sich daran schnell etwas ändern?

Wir müssen das Problem bald lösen. Sonst führt die Arbeitsmarktreform Hartz IV zu unakzeptablen sozialen Folgen für ältere Arbeitnehmer, die nach 20 oder 30 Berufsjahren arbeitslos werden. Nach einer Übergangszeit landen sie dann auf dem Niveau der Sozialhilfe im Arbeitslosengeld II. Die Kaufkraft der Sozialhilfe ist jahrelang gesunken. Auch deshalb muss ihre Höhe verteidigt werden.

Sollten wir dann nicht lieber Hartz IV erst einmal ganz stoppen?

Nein. Hartz IV verbessert immerhin die Vermittlung von Arbeitslosen und beseitigt einige Ungereimtheiten des bisherigen Systems. Gut finde ich auch, dass die Agenturen für Arbeit und die Kommunen verpflichtet sind, gerade jüngere Arbeitslose in eine Arbeit, eine Ausbildung oder zumindest eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln. Sie dürfen sie nicht einfach mit Transfers ruhig stellen. Das ist ein Vorteil.

Um es auf eine Formel zu bringen: Gewinner sind die Jungen, Verlierer die Älteren?

So einfach kann man das nicht sagen. Sozialhilfeempfänger stellen sich besser. Wer bisher wenig Arbeitslosenhilfe erhalten hat, dem kann es mit Hartz IV ebenfalls besser gehen. Finanziell schlechter stehen arbeitslose Akademiker oder Facharbeiter da, die früher mal ein gutes Gehalt bekommen haben.

Ist das gerecht?

Nur dann, wenn es für alle die Chance gibt, durch bessere Vermittlung und intensivere Betreuung wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Für ältere Arbeitnehmer sehe ich das noch nicht.

Sie wollen Ein-Euro-Jobs anbieten. Wird die Pflege unprofessioneller?

Die Pflege muss weiterhin von qualifizierten regulären Beschäftigten geleistet werden, es kann nur um ergänzende Tätigkeiten gehen. Es wäre arbeitsmarktpolitisch aberwitzig, Pflegekräfte durch öffentlich finanzierte Arbeitslosengeld-II-Empfänger zu ersetzen. Das würde zudem die Pflege in der Tat unprofessionell machen.

Finden Sie den Vorwurf des Kanzlers, es gebe eine „Mitnahmementalität“ in Bezug auf den Sozialstaat gerechtfertigt?

Die Armutsuntersuchung der Caritas zeigt: Es gibt viele arme Menschen, die einen Anspruch auf Sozialhilfe hätten, sie aber nicht beantragen. Es gibt Mitnahmeeffekte. Aber diese Debatte sollte man nicht auf die Unter- und Mittelschichten beschränken. So werden bei Vermietungen und Verpachtungen hohe steuerliche Verluste geltend gemacht. Die steuerlichen Regelungen sind also sehr attraktiv. Die Politik muss sich da an die eigene Nase fassen und Regelungen finden, die gerade hier weniger Mitnahmeeffekte ermöglichen.

Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hält 600 000 Arbeitsgelegenheiten für realistisch. Und Sie?

Das hängt davon ab, wer Angebote machen wird. In der Wohlfahrtspflege sind es weniger. Gemeinsam kommen wir in der Startphase auf 10 000 Arbeitsgelegenheiten in den sozialen Diensten.

Was werden Arbeitslose bei der Caritas machen?

Ein Arbeitsloser kann mit alten Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, einen Spaziergang machen, für sie Besorgungen erledigen, ihnen die Zeitung vorlesen.

Und das bringt einen zurück auf den ersten Arbeitsmarkt?

Ein Beispiel: Warum soll nicht ein Arbeitsloser aus einer Migrantenfamilie bei uns im Pflegeheim arbeiten, wenn er das mit einem Deutschkurs verbindet? Dann erwirbt er die Voraussetzung, um die Ausbildung zum Altenpfleger zu machen. Wir werden in Zukunft vermehrt Schwierigkeiten haben, Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen.

Sie übernehmen also auch den einen oder anderen später in einen festen Job?

Das werden wir versuchen. Es gibt aber auch Erwerbslose, die erst einmal nur lernen müssen, ihren Tag zu strukturieren.

Mit einem Ein-Euro-Job plus Arbeitslosengeld II kann man künftig mehr Geld verdienen, als wenn man einen regulären Nebenjob annimmt. Ist das Sinn der Sache?

Das ist ein Konstruktionsfehler. Das Gesetz muss an der Stelle geändert werden. Von einem Minijob im ersten Arbeitsmarkt mit 400 Euro darf ein Arbeitsloser nur 60 Euro behalten. Das ist arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv. Schließlich sollte die Integration in den ersten Arbeitsmarkt Vorrang haben vor öffentlich finanzierter Beschäftigung.

Bringt Hartz IV für die Geringqualifizierten neue Chancen?

Nur bei der Vermittlung. In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit von Menschen ohne Berufsausbildung fünfmal höher als mit Berufsausbildung. Die Wirtschaft schafft nicht genügend Stellen für Geringqualifizierte im Dienstleistungsbereich, weil sich eine Entlohnung über dem Sozialhilfeniveau häufig nicht rechnen würde. Frankreich und die Niederlande haben deshalb niedrig bezahlte Jobs sehr stark von den Sozialabgaben entlastet. Die USA und Großbritannien geben Beziehern geringer Einkommen eine Lohnsteuergutschrift. Das ist sinnvoll. Zudem dürfen wir nicht apathisch zusehen, dass zehn Prozent eines Jahrgangs keinen Hauptschulabschluss schaffen. Das sind die Bezieher des Arbeitslosengelds II von morgen.

Rot-Grün schläft bei diesem Thema?

Rot-Grün hat es auf der Agenda. Aber die SPD tut sich mit der steuerlichen Förderung des Niedriglohnsektors schwer. Mehr Stellen für gering Qualifizierte wären ein Beitrag zur Gerechtigkeit.

Das Interview führte Cordula Eubel. Das Foto machte Thomas Kunz.

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