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Politik: Ihr Leben danach

Von Moritz Schuller

Natascha Kampusch hat in den vergangenen acht Jahren viel ferngesehen. Nun gibt sie, wenige Tage nach ihrer Flucht, „schwer traumatisiert“, wie der betreuende Psychiater sie beschreibt, ein erstes Interview im Fernsehen. Dass die 18-Jährige, deren Publikum in den vergangenen acht Jahren aus einem einzigen Menschen bestand, sich nun persönlich an ein Millionenpublikum wendet, ist ein großes Wagnis.

Vielleicht geht sie es ein, weil sie meint, das ihr im Kellerverlies vertraut gewordene Medium gut einschätzen zu können. Das haben vor ihr schon andere gedacht. Auch die Entführungsopfer Wallert, Osthoff und Chrobog haben sich bald im Fernsehen gezeigt, und so unterschiedlich sie dort auch auftraten – hier Tränen, dort Raserei und Arroganz –, alle nahmen sie zusätzlich Schaden. Susanne Osthoff etwa wurde innerhalb weniger Minuten von der Heiligen zur Hexe.

Wenn Natascha Kampusch sich mit den Medien einlässt, dann geht sie jedoch ein besonderes Risiko ein, weil sie anders als andere Entführte in Wahrheit nur diese eine Identität hatte – die sie mit ihrer Flucht mutig aufgegeben hat. Sie steht also vor nichts Geringerem als der Aufgabe, sich selbst neu zu erfinden. Die Geschichte, die sie heute der Öffentlichkeit erzählt, wird von nun an ihre Lebensgeschichte sein.

Sie kann festlegen, wie es gewesen ist, das ist eine Chance, denn der Einzige, der ihr widersprechen könnte, ist tot. Sie kann aber nicht, wie der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, nachdem die Öffentlichkeit sich für ihn als Entführungsfall nicht mehr interessierte, die alte Identität annehmen. Sie hat keine. Das Bild, das sie heute abgibt, wird sie dagegen so schnell nicht mehr los.

Noch vor wenigen Tagen klang es, als wolle sich Natascha Kampusch für diese gewaltige Aufgabe Zeit nehmen. Sie bat in einem Brief („Sehr geehrte Journalisten, Reporter, sehr geehrte Weltöffentlichkeit“) darum, in Ruhe gelassen zu werden, „bis ich selbst berichten kann“. Ihr Psychiater hatte vorhergesagt, bis zu einem Interview könnten Wochen und Monate verstreichen, und diese Zeit wäre ihr auch trotz eines gewaltigen öffentlichen Interesses zugestanden worden. Sie selbst – hoffentlich war sie es denn selbst – hat sich nur knapp zwei Wochen gegeben.

Dass ein Mensch, der gar nicht wissen kann, was Öffentlichkeit ist, diese derzeit voll entfesselte Neugier bändigen kann, ist kaum vorstellbar. Denn die richtet sich nicht zuletzt auch auf jene „persönlichen und intimen Details“, über die Natascha Kampusch nicht reden will – von der aber viele zu hören wünschen. Dass ein alter österreichischer Boulevardjournalist sagt, man wolle doch wissen, ob es eine „traumatische Liebesgeschichte“ gewesen sei, zeigt, dass inzwischen nur noch eine Geschichte zählt: Die, die Natascha Kampusch nicht erzählen will. Den Rest kennt, in groben Zügen, die Öffentlichkeit ohnehin bereits.

Wie entlarvend wäre es, wenn das Medienecho verhallte, sobald sie die Geschichte eines jungen Mädchens präsentierte, das in einem spießigen Wiener Vorort mit einem älteren Mann gelebt hat, ihm ganz unspektakulär morgens das Frühstück machte und abends neben ihm vor dem Fernseher saß? Das Recht aber auf eine andere Version hat niemand.

Bisher hatte Natascha Kampusch die Öffentlichkeit eindrucksvoll auf Distanz gehalten. Dass der Fall nun – gegen Geld und mit ihrer Hilfe – weiter ausgeleuchtet wird, ist deshalb ein zu großes Wagnis, weil ihr dabei die Deutungshoheit über ihr eigenes Leben verloren gehen könnte.

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