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Politik: Im Schatten der Wahrheiten

Familie Kühne hat nie über den Krieg gesprochen. War Opa ein Nazi? Der Schwiegersohn glaubt das, der Enkel ignoriert es – bis die Tochter ihre Suche beginnt

Diese Geschichte hat ein glückliches Ende. Lange Zeit sah es nicht danach aus.

Als Georg Kühne am 19. November 1943 nahe Shitomir in der Ukraine mit seiner Panzerdivision vormarschiert, ist er 23 Jahre alt und hat fast vier Jahre Krieg hinter sich. Er war am Einmarsch in Polen beteiligt, er war in der Tschechoslowakei, in Frankreich, Jugoslawien und in Russland, das damals noch ins Riesenreich der Sowjetunion gehörte. Er war von der ersten Stunde an dabei.

Georg Kühne ist Funker und Kraftfahrer. Das hatte er sich so ausgesucht, deswegen hatte er sich 1938 freiwillig gemeldet. Zur Infanterie, zu den Stoppelhopsern, nein, das war nicht seine Welt. Er, ein junger Mann, Drogist von Beruf, von Kind auf vom Vater zur Sozialdemokratie erzogen, sportbegeistert, Ruderer bei den Falken, der Jugendorganisation der SPD, der wollte nicht durch den Schlamm robben. Wenn schon Wehrmacht – und davor gab es ja kein Drücken – dann doch lieber LKW-Lenken, Motorradfahren, das ist wie Sport. Ja, der Arbeitsdienst in Pommern, der war fürchterlich gewesen, Dienstbeginn morgens um 5 Uhr 15, dann Wiesen entwässern den ganzen Tag, abends um 21 Uhr noch Kartoffeln schälen, und kommandiert von hundertprozentigen Obernazis, eine schlimme Zeit. Der Einzug zum Schützenregiment in Sorau in der Lausitz war fast wie ein Einzug ins Hotel gewesen. Das war im November 1938. Ein paar Tage zuvor hatte er noch die „Reichskristallnacht“ miterlebt, auch der Lebensmittelladen seines Vater in der Pestalozzistraße in Berlin-Charlottenburg war beschädigt worden, weil der Vater bei seinen Kunden nicht unterschied zwischen Juden und Nichtjuden. Georg Kühne wusste, dass das kein guter Staat war für den er die Uniform anzog. Aber die Kameradschaft, der Zusammenhalt, das Motorradfahren, die Propaganda. Anfangs war er mit Enthusiasmus bei der Sache.

Nach der ersten Feindberührung war nur noch Angst gewesen. Wenn der Feind sich wehrte, zurückschlug, hatte Georg Kühne in seinem Unterstand gehockt, im Graben, und die Lage ans Kommando gefunkt. Eine Feuerwelle, dann noch eine, und eine dritte, Tote, Verwundete, Schreie – nicht mehr gewusst hatte er, wo oben und unten ist, vorne und hinten, was richtig und falsch ist. Und dann dieses kleine Dorf in der Nähe von Warschau. Als sie durch die Dorfstraße marschierten, waren sie plötzlich aus den Häusern heraus beschossen worden. Es gab den Befehl, die Häuser zu räumen, und dann waren die Menschen, die sich darin aufhielten erschossen worden. Zivilisten, es waren auch Kinder darunter. Später nannten die Russen seine Division Brand- und Morddivision. Aber das waren sie nicht, sie hatten ja gar keine Zeit fürs Morden und Brandschatzen, sie waren immer nur in vorderster Front und hatten um ihr Leben gekämpft. Georg Kühne war Funker, er hatte nur eine kleine Maschinenpistole, er hatte nicht schießen müssen. Aber er hatte Augen um zu sehen. Und einmal, da war er auf der Reise zum Heimaturlaub, da sah er, wie in Warschau das Ghetto angegriffen wurde. Da waren auch keine Soldaten drin. Georg Kühne wusste alles.

Und wie er das alles erzählt, mehr als 60 Jahre später in seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg, da steigen mit den Erinnerungen die Tränen auf, „ich war doch kein Held“, sagt er. Er hat lange nicht über den Krieg geredet, wenn überhaupt. Georg Kühne ist 85 Jahre alt und viel später im Gespräch wird er auf die Frage, ob er das Kriegserlebnis verarbeitet hat, antworten: „Das haben Sie gerade erlebt, offensichtlich ja nicht, kann man so etwas überhaupt verarbeiten?“

An jenem 19. November 1943 nahe Shitomir in der Ukraine, sind Georg Kühne und seine Kameraden längst von den Russen gesehen worden. Es ist Mittag. Und dann plötzlich der Beschuss. Alle springen runter von den Fahrzeugen, Deckung suchen, aber es gibt keine. Georg Kühne läuft ins Feld. Im Zickzack, wie ein Hase. Die Granate trifft ihn trotzdem. In den linken Arm, der ist zerfetzt, das Blut läuft runter wie Wasser, er schreit. Ein Kamerad, der helfen kommen will, wird selber getroffen. Georg Kühne schleppt sich weiter, er bricht zusammen, der Blutverlust ist zu hoch. Dann wird er doch gerettet und schon auf dem Verbandsplatz denkt er, es ist vorbei, Gott sei Dank ist es vorbei. Der Arm ist hin, seinen erlernten Beruf wird er nicht mehr ausüben könne. Aber alles ist besser, als dieser Irrsinn.

Auf der anderen Seite des Couchtisches sitzt Sigrun Kühne, Georgs Frau. Still hat sie ihrem Mann zugehört, manches hört sie heute zum ersten Mal. 65 Jahre alt ist sie. Damals im Mai 1946, als ein vollkommen fremder Mann vor der Tür stand, musste ihre Mutter ihr erst erklären, dass dieser Mann ihr Vater ist. Die Kühnes haben sich auf eine Anzeige im Tagesspiegel gemeldet, mit der Familien gesucht wurden, die darüber reden, dass sie seit drei Generationen nicht oder kaum über den Krieg und all die Gräuel geredet haben. Sigruns Mutter mag immer noch nicht reden, 98 Jahre alt ist sie, immer noch wach, wie Sigrun erzählt, aber als die Tochter nach den Erinnerungen kramte, nach Zeugnissen suchte, in Alben blätterte, da schimpfte die alte Dame: „Was tust du? Womit beschäftigst du dich? Du wühlst im Dreck.“ Das hat Sigrun Kühne nur neugieriger gemacht. Und misstrauischer. Das Urteil ihres Mannes über ihren Vater stand ohnehin schon fest: „Der war ein Nazi.“

Die beiden mochten sich nicht. Sigrun und Georg lernten sich 1965 kennen, bald darauf heirateten sie. Dass da ein alter Sozi in die Familie reinschneit, in eine Familie, die früher dem Zentrum, der Partei des christlichen Konservativismus, nahe gestanden hat und nach dem Krieg sich der CDU verpflichtet fühlte, das hat Werner Hinsche, dem Schwiegervater, nie gepasst. Und umgekehrt war Georg ein Sturkopf. Sagt Sigrun, sagt er selbst. Meist gingen die Streitereien um aktuelle Politik, aber dass sein Schwiegervater in der NSDAP war, das wusste Georg. Man hat nicht daran gerührt, sagt er. Ob das Wissen über die Vergangenheit der tiefere Grund für die Animositäten war? Weiß man’s? Es gab Zeiten, da hatten die beiden gar keinen Kontakt miteinander.

Sigrun Kühne hat lange Zeit nicht viel gewusst. Der Vater ist Patriarch, der sagt, wo es lang geht, und sie hält sich daran. Ein paar Schlagworte bestimmten die Familienlegende. Von der Mutter hört sie, dass niemand etwas gewusst hatte, da seien ein paar Juden abgeholt worden, die seien irgendwo zu einer Registratur gefahren worden. Dass diese Juden nie mehr wiederkamen, ist der Mutter nicht aufgefallen, Sigrun Kühne fragt auch nicht danach.

Vom Vater geht die Legende, dass er vor dem Krieg Bauingenieur war, dann arbeitslos und um wieder Arbeit zu finden, in die Partei eingetreten war. Nach dem Krieg habe er erst als Maurer arbeiten müssen, weil ihm als Parteigenosse der eigentliche Beruf verwehrt worden sei. Sigrun Kühne fragt nicht nach, ob das denn sein kann, das einer Berufsverbot bekommt, wegen bloßer Parteimitgliedschaft. Sigrun hatte eine andere Rebellion zu führen gegen den Vater, aber die hat nichts mit dem Nationalsozialismus und den möglichen Verstrickungen darin zu tun. Von einem Onkel wird noch geredet, einem Zahnarzt, der war wohl stärker involviert, der hat sich am 23. April 1945, als der Zusammenbruch schon erkennbar war vergiftet. Und seine Frau und die beiden Söhne dazu.

Aber sonst findet der Krieg im Elternhaus Sigrun Kühnes, die noch Hinsche heißt, nicht statt. Sigrun hat andere Probleme. Der Vater bestimmt alles, Sigrun fühlt sich fremdbestimmt, nie darf sie sich modisch kleiden, immer muss sie die hässlichen Sachen tragen, stets heißt es, was sollen die Leute denken, die Nachbarn gucken schon. 1961 machte sie einen Versuch des Ausbruchs, Herrgott, denkt sie, ich bin 21 Jahre alt und immer noch Jungfrau, mir reicht’s jetzt. Sie geht nach Köln, lernt Stenokontoristin, lebt in einem Wohnheim, daheim hält man sie für ein gefallenes Mädchen, eins, das auf die schiefe Bahn geraten ist. Nach drei Jahren kehrt sie ins Elternhaus zurück. Aber es hat sich nichts geändert, der Vater befiehlt, Sigrun folgt. Ich war ein braves Mädchen, sagt sie, viel zu brav. Die Heirat mit dem Sozi Georg, das ist die Rebellion, fortan ist Georg das schwarze Schaf in der Familie. Der Krieg, der Nationalsozialismus, wie weit weg ist das alles, die Eltern sagen nichts, sie fragt nicht, warum auch, wenn das schon für Georg, den Kriegsversehrten, kein Thema ist bei den Streitereien mit dem Schwiegervater. Sigrun bringt Carsten auf die Welt, am 7. 10. 1968. Der Vater ist jetzt Großvater. Ich glaube ja, dass die Generation meines Vaters immer nur gefolgt ist, alles getan hat, was man ihr vorsagt, sagt Sigrun. Komisch, ich auch.

Der Enkel und der Opa. Sie werden ein Herz und eine Seele. Der Krieg ist für Carsten allgegenwärtiges Thema von Kind auf. Warum hat dein Vater einen verkrüppelten Arm wird er von den anderen Kindern gefragt. Der Vater erzählt ihm von der Verletzung, und dass es eine schlimme Zeit war. Carsten fragt nicht weiter nach. Jedes Jahr am 30. Januar, an Opas Geburtstag, sagt Opa immer den gleichen Satz: „Ich weiß gar nicht, was ihr wollt, ich feiere den 30. Januar weiterhin.“ Am 30. Januar 1933 hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, der Tag der Machtergreifung. Ansonsten wird darüber nicht geredet.

Der Vater verbietet Carsten Waffen als Spielzeug, der Opa sieht das nicht so eng. Überhaupt steht Carsten bei den Streitereien des Vaters mit dem Opa mehr auf Seiten des Opas, der Vater ist immer so stur, sagt er. Es gibt eine Verwerfung zwischen Opa und Enkel. Das ist, als Tim heranreift im Mutterbauch, 1997, Tim, das Resultat eines One-Night-Stands. Der Vater hatte immer Sorge, Carsten könne sexuell in eine andere Richtung laufen, da, sagt Carsten, hat er sich wohl geirrt. Als Tim auf die Welt kommt, verzeiht Opa. Auf einem Foto hält er den Urenkel im Arm, schlohweiß ist das Haar des alten Mannes, ein wenig freakig sieht er aus und sehr gütig. Carsten hat seinen Opa immer verehrt. Carsten hat auch Bauingenieur gelernt. Mit Vaters politischer Ausrichtung hat er nicht viel am Hut. Und ob Opa verstrickt war in den Nationalsozialismus? Carsten hält es mit der Oma, vielleicht wollte ich es nicht wissen, sagt er.

Vor zwei Jahren verstarb Sigrun Kühnes Vater. Erstmals las sie alte Briefe. Und wie sie jetzt, zwei Wochen vor Himmelfahrt, da sitzt an ihrem Couchtisch und erzählt und die Briefe wieder liest, kommen die Zweifel. Kann das sein, was ihre Mutter am 21. 1. 1946 schrieb, dass sie ihre Laube in Wilmersdorf abgeben mussten „wegen PG“, wegen Parteigenossenschaft? Warum blieb mein Vater nach dem Krieg ein Jahr im Allgäu bei einem befreundeten Kameraden? Hatte er Angst zurückzukommen? Berufsverbot für einen Bauingenieur, weil er in der Partei war? Höchstens wenn er sich etwas zu Schulden hat kommen lassen, etwas schwer wiegendes. Das geht doch nur, wenn er Konzentrationslager mitgebaut hat, Vernichtungslager. Und dann dieser merkwürdige Satz im Brief vom 6. Dezember 1946, geschrieben aus dem Allgäu. „Am 9. 5. streckten wir die Waffen, gingen bis 12. 5. in Gefangenschaft beim Tito, wer wollte durfte am 12. 5. wieder Waffen aufnehmen und alle durften den Marsch in Richtung Heimat fortsetzen.“ Georg Kühne glaubt kein Wort, „das ist unmöglich“. „Ich hätte viel früher nachfragen sollen“, sagt Sigrun.

Am Himmelfahrtstag ruft Sigrun Kühne an: „Ich habe jede Menge Dokumente, die meinen Vater freisprechen. Ich kann sie vorbeibringen.“ Sie hat den Dokumenten einen Brief beigelegt: „Die Vergangenheit hinterlässt auch heute noch seine negativen Spuren für die Familie. Meine Mutter hat mit großem Groll auf mich gestern die gesamten Zeugnisse meines Vaters herausgegeben. Daraus habe ich endlich die Gewissheit, dass mein Vater tadellose Arbeitszeugnisse bekommen hat und einen lückenlosen Weg auch im Krieg nachweisen kann. Ich muss mir in unserer Ehe immer noch meinen Vater nebst Familie als Nazi vorwerfen lassen.“

Georg hat Sigrun begleitet. Er sagt, dass die Zeugnisse alle gefälscht sind. Er lacht dabei, das meint er nicht ernst. Sigrun lacht auch. Auf dem Umschlag, in dem sie die Dokumente verwahrt hat, hat sie noch ein paar Worte geschrieben: „Tag meiner Befreiung (heute).“

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