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Politik: In ungeordneten Verhältnissen

DEUTSCHLANDS SCHULDEN

Von Ursula Weidenfeld

So ist das also, wenn man über seine Verhältnisse lebt. Man selbst merkt es kaum. Wissen wir, wie gut es uns geht? Und dann steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Das ist Deutschland im Herbst 2002.

Eine neue Regierung betritt die Nationalgalerie, unter dem Arm ein Vertragswerk, das offenbar genug Zumutungen enthält, ein Volk und seine Unternehmen in eine Rettesich-wer-kann-Stimmung zu versetzen. Mehr noch: Der Finanzminister muss am selben Tag zugeben, dass sein Sparprogramm nicht reicht, weil das Land noch enorm viel mehr Geld als erwartet ausgegeben hat. Dass die Einnahmen leider nicht mitgehalten haben. Dass das Land deshalb noch mehr Schulden gemacht hat. Und alle ahnen, dass es wahrscheinlich noch schlimmer wird. Jetzt wissen wir: Es geht uns nicht gut. Es geht uns schlecht.

Aber was macht der Regierungschef? Der reist durch Europa, um Parteigänger für seine neue Mission zu finden: Kippt die Maastricht-Kriterien! Zu starr, zu unflexibel und den wirtschaftlichen Realitäten sowieso nicht angemessen: Mit diesen Argumenten sammelt Gerhard Schröder in Frankreich, Italien und Portugal Zustimmung, damit die Stabilitätsvereinbarung nicht mehr so ernst genommen werden muss. Die erlaubt, höchstens drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes an neuen Schulden aufzunehmen. Und ist es nicht zu viel verlangt, dass die Regierung stillhalten soll, nur weil es einen Vertrag mit den anderen Euro-Mitgliedsstaaten gibt?

Ist es nicht. Stabilität hat Kriterien, und die sind nicht überholt. Harte Währung ist mehr als Folklore. Auch wenn das Defizitkriterium in der Tat willkürlich gewählt und volkswirtschaftlich nicht zu begründen ist: Die Vereinbarung der Euro-Mitgliedsländer hat längst Bedeutung über den Vertragstext hinaus.

Das so genannte Maastricht-Kriterium ist die einzige Grenze bei der Neuverschuldung und den Regeln guter Haushaltsführung, die bisher ansatzweise gehalten hat. Wenn sich Kanzler Schröder in diesen Tagen frei entscheiden dürfte, dann würde die Neuverschuldung deutlich steigen. Dann würde nicht über drei oder 3,2 Prozent diskutiert – dann ginge es um vier, sechs oder acht Prozent.

Das hat Folgen, zwingend: Nicht die Regierung, die sich die Gerechtigkeit als Schlagwort über das Koalitionsprogramm geschrieben hat, wird am Ende für die nötige Generationengerechtigkeit sorgen – es wird der europäische Vertrag sein. Schröder muss es sich gut überlegen, ob er die Kriterien von Maastricht tatsächlich demontieren will. Damit würde er die Zukunft verbauen.

Nichts ist gewonnen, wenn die Regierung jetzt kein neues Spar- und Reformprogramm auflegt. Wenn die europäischen Regierungen den Maastricht-Vertrag aufweichen und sich in neue Schulden stürzen, dann wird die Europäische Zentralbank die Aufgabe übernehmen müssen, Disziplin zu erzwingen – was erst recht niemand wollen kann. Eine Notenbank, die den Euro gegen seine ehemals eifrigsten Fans verteidigen muss, anstatt eine wachstumsfördernde Geldpolitik zu machen? So bitter ist keine Ironie.

Die Reaktion auf das rot-grüne Regierungsprogramm hat gezeigt, dass es allgemein als ungerecht empfunden wird. Das Gefühl trügt nicht. Das Programm ist ungerecht – gegenüber Beschäftigten, gegenüber Selbstständigen, gegenüber der Wirtschaft. Durch mehr Schulden aber wird es nicht gerechter werden. Mehr Schulden verletzen nur ein noch grundsätzlicheres Prinzip der Gerechtigkeit: das der Gerechtigkeit gegenüber den Kindern dieser und der nächsten Generationen. Die werden dann die Rechnung bezahlen müssen. Weil wir über ihre Verhältnisse leben.

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