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Politik: Inmitten von Krisen küren die regierenden Neoperonisten ihren Präsidentschaftskandidaten

"Ach würde Duhalde doch singen statt reden", flehte der Karikaturist der argentinischen Tageszeitung "La Nacion". Doch die Rollenverteilung ist klar: Wenn Eduardo Duhalde (57), der am Montag von der regierenden neoperonistischen Partei offiziell zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde, durch die Lande tourt, greift sein politischer Mitstreiter Ramón Ortega (58) zur Gitarre, und Duhalde stellt sich ans Rednerpult.

"Ach würde Duhalde doch singen statt reden", flehte der Karikaturist der argentinischen Tageszeitung "La Nacion". Doch die Rollenverteilung ist klar: Wenn Eduardo Duhalde (57), der am Montag von der regierenden neoperonistischen Partei offiziell zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde, durch die Lande tourt, greift sein politischer Mitstreiter Ramón Ortega (58) zur Gitarre, und Duhalde stellt sich ans Rednerpult. Ortega, der sich einst mit bescheidenem Leistungsausweis als Gouverneur der Provinz Tucuman versuchte (1991 - 1995), soll vor allem bei den Frauen Stimmen holen. Deswegen hat sich der Ex-Schlagerstar, den sie in Argentinien Palito ("Stöcklein") nennen, von kundiger Chirurgenhand die Gesichtsfalten entfernen lassen.

Duhalde, der als Vizepräsident von Carlos Menem (1989 - 1991) und als derzeitiger Gouverneur der Provinz Buenos Aires eigentlich über eine gewisse Regierungserfahrung verfügen sollte, vergreift sich derweil immer häufiger in der Tonart. Es ist noch nicht lange her, da wollte Duhalde die Plattenbauten in einem Armenviertel der Hauptstadt in die Luft sprengen, weil sie "Zellen der Kriminalität" seien. Nun hat der Mann, der seine Wirtschaftspolitik in einem Nebensatz ("sozialer Kapitalismus, mit Vollbeschäftigung und ohne Armut") zusammenfassen kann, die Aktienmärkte und die ausländischen Investoren mit einer weiteren Bombenidee in Alarmstimmung versetzt: Duhalde dachte vor wenigen Tagen laut über einen Erlass der im Moment knapp 145 Milliarden Dollar betragenden Auslandsschulden nach. Als Präsident werde er sich "persönlich und beim Papst für einen Schuldenerlass einsetzen", hatte Duhalde seinen Anhängern zugerufen.

Wie nervös die Stimmung am Rio de la Plata dieser Tage ist, musste der Präsidentschaftskandidat am Tag nach den unbedachten Äußerungen erfahren: Der Börsenindex in Buenos Aires sackte um fast neun Prozent ab. Seit der große Nachbar Brasilien zu Beginn des Jahres seine Währung massiv abgewertet hat, ist in Argentinien die Industrieproduktion um nahezu zehn Prozent gesunken. Die Autoproduktion nahm im Mai im Vergleich mit dem Vorjahresmonat um 50 Prozent ab.

Eine Streikwelle hat das Land erfasst: Zuerst gingen die Lehrer auf die Straße, nachdem die Regierung Menem den Bildungshaushalt zusammengestrichen hatte. Hierauf ersann man in der Casa Rosada eine sogenannte Lehrersteuer, um den Dozenten trotz massiver Budgetkürzungen doch noch zu der vor zwei Jahren versprochenen Lohnaufbesserung zu verhelfen: Hals über Kopf wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach alle Automobilisten eine Abgabe gemäß dem gegenwärtigen Wert ihres Fahrzeuges zu entrichten haben. Vor allem die Besitzer von Neuwagen, die ihr Auto ohnehin schon in Monatsraten abstottern, schrien entsetzt auf. Schützenhilfe bekamen sie von den Taxifahrern und den Lastwagen- und Omnibus-Chauffeuren, die zum Bummelstreik aufriefen und tagelang die Autobahnen und die Innenstädte des Landes lahmlegten. Die Regierung krebste ein weiteres Mal zurück, nachdem es im ganzen Land zu Versorgungsengpässen kam: Das Gesetz, so hieß es, sei zwar weiterhin in Kraft, säumige Zahler würden jedoch erst ab November gemahnt. Präsident Menem überlässt das Problem damit seinem Nachfolger, der am 24. Oktober gewählt wird. Seit seiner Wiederwahl 1995 hat Menem ohnehin die meiste Zeit damit zugebracht, Mittel und Wege zu finden, um die Verfassung auszuhebeln, die ihm die dritte Amtszeit verbietet.

Zudem hat er sich mit seinem einstigen Partner und späteren Vizepräsidenten Duhalde derart verkracht, dass manche im Lager der neoperonistischen Justizialistischen Partei vermuten, der Präsident wünsche sich eine Wahlniederlage, um wenigstens als Oppositionschef weiterhin das Sagen zu haben. Mit dem Reformeifer der Regierung ist es jedenfalls längst vorbei, und Menem ist dabei, die Meriten seiner ersten Amtszeit gänzlich zu verspielen: Die Arbeitslosigkeit hat in diesen Monaten mit 15 Prozent wieder alte Höchststände erreicht, obwohl Angestellte nach wie vor schlecht verdienen: Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei 680 Dollar; jeder fünfte Argentinier lebt in Armut. Die Kriminalitätsrate hat dramatisch zugenommen: Alle 45 Sekunden wird irgendwo im Land ein Delikt angezeigt.

Der Präsident ist zum Ende seiner zehnjährigen Amtszeit auf einem poltischen Tiefpunkt angelangt. Vor wenigen Tagen hinderten aufgebrachte Landwirte in der Provinz Entre Rios den Präsidenten an der Abhaltung eines Festaktes. Importbeschränkungen, mit denen Menem die heimische Schuh- und Papierindustrie vor den brasilianischen Billigprodukten schützen wollte, musste der Präsident am Donnerstag kleinlaut wieder zurücknehmen. Noch schlimmer könnte es ihn beim offiziellen Wahlkampfstart seiner Justizialistischen Partei in zehn Tagen treffen: Vom zweiten Glied aus soll Menem dem Kandidatenpaar Duhalde/Ortega zujubeln, ein Platz auf der Haupttribüne ist für den Präsidenten nicht vorgesehen.

Martin Arn

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