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© ullstein bild - Mehner

Interview: "Das letzte Imperium musste verschwinden"

Vor 20 Jahren fiel die Berliner Mauer – Gorbatschows Berater Anatolij Tschernjajew hatte den Tag lange erwartet.

Die Mauer werde auch in 100 Jahren noch stehen, sagte DDR-Staatschef Erich Honecker noch im Januar 1989. Wann war für Sie klar, dass sie fallen wird?



Lange bevor ich für Michail Gorbatschow gearbeitet habe. Als ich für die internationale Abteilung des Zentralkomitees tätig war, studierte ich Ost- und Westdeutschland. Ich weilte viele Male in Westberlin, den Rheinstädten, Bayern und so weiter. Ich verstand, dass diese Nation nicht lange geteilt bleiben konnte und die neuen Generationen nicht für das verantwortlich zu machen waren, was ihre Väter getan hatten. Meine Mutter wuchs vor der Revolution in einer deutschen Familie auf. Sie versuchte mir diese Gepflogenheiten weiterzugeben. Ich war mit der deutschen Literatur und der Geschichte vertraut. Außerdem kannte ich viele Leute aus der DDR, vor allem aus dem ZK-Apparat. Ich sah, dass sie auch – ungeachtet des Regimes, der Disziplin und der Angst vor Honecker und seinem Umfeld – im Inneren überzeugt waren, dass es keine sozialistische Vereinigung Deutschlands geben wird, sondern eine normale, nationale Vereinigung.

Und als die Mauer in der Nacht vom 9. auf den 10. November fiel – erinnern Sie sich noch, wie Sie davon erfahren haben?

Ich erfuhr es morgens übers Radio. Ich machte gerade meine Turnübungen. Mich hat das überhaupt nicht überrascht. Nach Gorbatschows Besuch zum 40-jährigen Bestehen der DDR war klar, dass die letzten Tage des Regimes angebrochen waren. Als ich an meinem Arbeitsplatz ankam, wurde darüber gesprochen, aber es war keinesfalls ein Schock. Das Politbüro sah sich nicht einmal veranlasst, sich zu einer Sondersitzung zu treffen. Die vor allem von KGB-Mitarbeitern verbreitete Behauptung, das Politbüro in Moskau sei schockiert gewesen, ist völliger Unsinn. Die Nachricht wurde sehr ruhig aufgenommen, obwohl man sich bewusst war, dass dies für uns künftig eine schwierige Situation bedeutet.

In Ihrem Tagebuch schrieben Sie damals, Gorbatschow habe es der Geschichte erlaubt, ihren natürlichen Gang zu nehmen. Aber haben nicht auch persönliche Beziehungen eine wichtige Rolle gespielt? Sie zum Beispiel waren ja ein großer Fan von Margret Thatcher.


Eine wichtige Rolle spielte die Beziehung zwischen dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und Gorbatschow. Sie entwickelte sich hin zu einem gegenseitigen freundschaftlichen Verständnis. Gorbatschow vertraute Kohl. Was Thatcher betrifft, so hatte meine Beziehung zu ihr keine politische Bedeutung. Ich bewundere sie einfach als schöne und sehr intelligente Frau und Staatsführerin. Sie stand der Vereinigung allerdings sehr skeptisch gegenüber. Thatcher wollte kein stärkeres Deutschland, das ihr in der europäischen Politik Widerstand leisten könnte. Außerdem existiert in England ein historisches Misstrauen gegenüber den Deutschen. Das hat mich überrascht.

Warum?

Die Russen mussten im Zweiten Weltkrieg noch größere Opfer bringen als die Engländer, und trotzdem fanden sie sich früher mit der Vereinigung ab. Der französische Präsident François Mitterrand war ebenfalls skeptisch. Aber Thatcher und Mitterrand verstanden, dass die Vereinigung unausweichlich war, und leisteten deshalb keinen Widerstand. Auch Gorbatschow war klar, dass er den zukünftigen Beziehungen zu Deutschland schaden würde, sollte er zu sehr auf die Bremse treten. Er arbeitete für die Zukunft. Und tatsächlich, wenn die UdSSR bis heute Bestand gehabt hätte, würde die Beziehung Berlin-Moskau als demokratisch-friedfertige Achse eine enorme Rolle spielen.

Und wie beurteilen Sie heute den Beitrag der USA?

Gorbatschows Beziehung zu George Bush senior war natürlich von großer Wichtigkeit. Vor dem Mauerfall hielten sich die Amerikaner aber zunächst zurück. Sie nahmen die Bedeutung der Transformationsprozesse in Osteuropa nur langsam wahr. Dann aber realisierten sie, dass Gorbatschow allen Ruhm und alle Dankbarkeit für die Wende ernten würde, wenn sie sich nicht beteiligten. Bush klinkte sich ein und trieb Kohl dann sogar an, vorwärts zu machen. Und Gorbatschow verstand, dass man sich dem Willen des Volkes nicht entgegenstellen kann. Das widersprach seiner Mentalität, dem „neuen Denken“ und seiner ganzen Politik.

War die Vereinigung auch der Anfang vom Ende der Sowjetunion?

Nur in sehr weitem Sinne. 1989 waren bei uns bereits solche Zerfallsprozesse im Gang, auf welche die äußeren Umstände nur einen minimalen Einfluss hatten. Dass die Sowjetunion unterging, ist das Resultat eines objektiven historischen Prozesses. Das letzte Imperium musste verschwinden. Es existierte bereits wider den globalen und nationalen Zeitgeist. Natürlich hätte die UdSSR nicht so schändlich zu Ende gehen können, wie es letztlich geschah. Sie hätte sich vielleicht wirklich in eine sehr liberale Konföderation verwandeln können. Aber als Zentralstaat konnte die Sowjetunion nicht weiter bestehen.

Gibt es Momente, in denen Sie 1989 selbst den Lauf der Weltgeschichte beeinflussen konnten?

All die Übertreibungen, dass ich oder etwa auch Außenminister Eduard Schewardnadse eine entscheidende Rolle bei der Beendigung des Kalten Krieges gespielt hätten, das ist alles dummes Zeug. Sämtliche Ideen und Anstrengungen gingen von Gorbatschow aus. Ich habe an der Formulierung bestimmter Ideen und der Präzisierung von Texten teilgenommen. Sicher, zum Beispiel bei den Fragen der nuklearen Abrüstung und der Vereinigung Deutschlands habe ich eine sehr klare Stellung bezogen. Immer wenn an diesen demokratischen Prozessen Zweifel laut wurden, bin ich sehr entschieden dagegen aufgetreten. Wie stark dies Gorbatschow beeinflusste, ist schwer zu sagen. Im Allgemeinen jedoch waren meine Ansichten im Einklang mit seinen Gedanken und Wünschen. Aber weil seine Verantwortung millionenfach größer war als meine, konnte ich mir erlauben zu sagen, was ich wollte. Er hingegen traf die Entscheidung in der Verantwortung vor dem Land, vor der Partei und seinen Kollegen im Politbüro.

Sie schrieben 1989 nicht nur einmal, dass die Mehrheit des Zentralkomitees und des Politbüros gegen die Perestroika war und Gorbatschow die wichtigsten Machthebel verloren hat. Wie erklären Sie heute, dass solche Leute wie Sie in diesem totalitären System an die Spitze kamen?

Das Paradoxon besteht darin, dass der sowjetische Staat einerseits kritische Literatur unterdrückte. Andererseits aber entschied er, die Werte der großen russischen Klassiker aus dem 19. Jahrhundert im Schulunterricht weiterzugeben. So erzog er die Leute zu hohen menschlichen Qualitäten: Mut, Treue, Freundschaft, Liebe.

Der Fall der Berliner Mauer ist in Russland kein großes Thema. Warum?


Die aktuelle Führung kann Gorbatschows Verdienste nicht anerkennen. Sie kann nicht eingestehen, dass der Beginn der Freiheit und Demokratie unter Gorbatschow eingesetzt hat. Die heutigen Herrscher versuchen dies Boris Jelzin zuzuschreiben, der Gorbatschow hasste. Gleichzeitig wird der 9. Mai, der Siegestag im Zweiten Weltkrieg, mit großen Paraden gefeiert. Er ist ein Mittel, um den Patriotismus zu nähren. Denn sonst gibt es nichts, wofür man sich rühmen könnte.

Sie möchten ein demokratisches Russland. Andererseits haben Sie auch einmal geschrieben, dass das russische Volk nur mit harter Hand zur Ordnung gebracht werden könne.


Ja, das habe ich in meinem Tagebuch geschrieben, in dem ich allerdings vor der Veröffentlichung keine Korrekturen angebracht habe. Aber ja, unser Volk ist an die Knute einer absolutistischen Herrschaft gewöhnt. Seit Iwan III. besteht ein imperialistisches Bewusstsein. Als Alexander II. die Bauern von der Leibeigenschaft befreit hatte, waren diese nicht zufrieden. Was sollen wir ohne Gutsbesitzer, ohne Väterchen Zar?, fragten sie. In unserer Mentalität ist dies verankert: einerseits das Anarchische, Chaotische und Zerstörerische sowie andererseits ein sklavischer Servilismus. Viele denken daher heute, Gorbatschow hätte öfter eine Division schicken und alle verhaften lassen sollen.

Auch Sie haben in Ihrem Tagebuch 1989 von Gorbatschow ein härteres Durchgreifen gefordert.

Ja, aber das hätte die Situation nicht gerettet. Ich habe gesehen, wie alles zerfällt. Das war natürlich eine emotionale Reaktion.

Sie wünschten sich vor 20 Jahren, dass Russland „ein normales Land“ werde. Wie weit ist Russland heute von diesem Ziel entfernt und was würden Sie heute einem Präsidenten raten, um dieses zu erreichen?

Ich würde in erster Linie raten, sich vom Großmachtanspruch zu verabschieden. Russland war ein Imperium, aber jetzt verfügt es über keinerlei Ressourcen. Auf Öl und Gas lässt sich heute keine Supermacht bauen. Nun, da Russland ein Prozent der weltweiten Wirtschaftskraft stellt, auf einen Großmachtstatus zu bestehen, ist einfach lächerlich. Nur weil wir über Atombomben verfügen und unser Land sich über elf Zeitzonen erstreckt, sollten wir uns nicht für eine Großmacht halten. Wir müssen uns in die internationale Gemeinschaft einfügen und die Verantwortung für den Teil der globalen Herausforderungen übernehmen, den wir meistern können.

Kritiker fürchten jedoch einen weiteren territorialen Zerfall, sollte Russland eine echte Demokratie werden.

Na und. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow kämpfte früher mit der Waffe gegen Russland. Jetzt hat er verstanden, dass er ohne Russland nichts erreichen kann. Wenn jemand aus Russland austreten möchte – nur zu. Mit Gewalt soll man niemanden zurückhalten. Ich bin überzeugt, dass in der momentanen Situation kaum jemand den russischen Staat verlassen möchte. Das Traurige für mich aber ist, dass die Kultur zugrunde geht. Die Kultur, die das totalitäre Regime gestürzt hat. Dieses Erbe verschwindet, genau wie die Intelligenzija. Es bleiben – wie Alexander Solschenizyn schrieb – die Gebildeten. Gebildete Leute gibt es bei uns sehr viele, aber intelligente Leute verbleiben nur noch ganz wenige.

Sind Sie also eher optimistisch oder pessimistisch?


Pessimistisch natürlich. Ich bin sehr skeptisch. Ich sehe keine Möglichkeiten, weder menschliche noch technologische, damit sich Russland in überschaubarer Zukunft in einen normalen Staat verwandeln könnte.

Das Gespräch führte Christian Weisflog.

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