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Politik: „Islamisten in der Krise“

Der syrische Philosoph Sadiq al-Azm zu Folgen des 11. September

Haben die Anschläge von Al Qaida einen spezifisch islamischen Hintergrund?

Sie sind eng verknüpft mit dem saudischen Islam-Verständnis. Die konservative Ideologie, die das saudische Herrscherhaus legitimiert, wird verstärkt durch die Kombination mit beduinischen Werten wie Nüchternheit, moralischer Reinheit und Gradlinigkeit. Aber das Leben in Saudi-Arabien hat mit diesem Anspruch nichts zu tun. Der Graben zwischen der islamischen Ideologie und dem realen Leben ist riesig geworden. Intelligente, gut ausgebildete Menschen stehen vor der Wahl: Entweder sie werden zynisch, kümmern sich nicht um die Ideologie und arbeiten an ihrer Karriere. Oder sie glauben an die Ideologie und wollen ihr die Wirklichkeit anpassen. Osama bin Laden griff die Nation an, die in seinen Augen das Überleben des verhassten saudischen Regimes sichert.

Aber nicht nur Saudi-Arabien, sondern die gesamte arabische Welt tut sich schwer mit der Moderne. Warum?

Die Araber sehen sich aufgrund ihrer Geschichte als Eroberer, Pioniere und Weltverbesserer. Sie haben sich bis heute nicht mit der Realität versöhnt, die so gar nicht diesem Bild entspricht: Islam auf dem Rückzug, im Verfall, in der Weltpolitik und Weltwirtschaft hat die arabisch-islamische Welt nur marginalen Einfluss. Deshalb schwankte die arabische Welt im gesamten 20. Jahrhundert ständig in Hamlet-Manier zwischen den beiden Polen Authentizität und Moderne, Tradition und Erneuerung hin und her.

Werden die Ereignisse des 11. September und seine Auswirkungen dieser Unentschlossenheit ein Ende setzen?

Ich denke, wir übertreiben die Auswirkungen des 11. September. Es gab Ereignisse, die ähnliche Schocks und westliche Kampagnen gegen die islamische Welt auslösten. 1972 das Massaker an den israelischen Sportlern bei den Olympischen Spielen in München. Dann die islamische Revolution in Iran, die eine regelrechte Hysterie im Westen auslöste. Schließlich die Todes-Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie. Wir sind in gewisser Art unsensibel geworden gegen diese Wellen der Hysterie, die aus dem Westen regelmäßig zu uns überschwappen.

Das Verhältnis wird also auch weiterhin von regelmäßigen Krisen erschüttert werden?

Das wird lange Zeit so weitergehen. Bis wir uns ernsthaft eingestehen, dass die islamische Welt sich im Verfall befindet und wir etwas unternehmen müssen.

Aber haben die Anschläge vom 11. September die extremistischen Islamisten nicht in eine tiefe Krise gestürzt?

Ja, die Islamisten fühlen sich verwaist. Nach dem Zusammenbruch des Regimes in Afghanistan und dem internationalen Kampf gegen islamischen Extremismus geht es ihnen wie den Nasseristen nach dem Tod von Nasser. Es gibt noch immer viele von ihnen, aber sie bilden keine kohärente Kraft mehr. Die Islamisten haben kein Modell geschaffen, außer in Afghanistan, und in der gesamten arabischen Welt hat nicht einer öffentlich das Taliban-Regime verteidigt.

War der Höhepunkt des politischen Islam womöglich bereits überschritten?

Ich denke, die terroristische Gewalt zeugt von einer tiefen, strukturellen Krise der islamistischen Bewegung. Sie war schon vor dem 11. September in einer Sackgasse gelandet und einige extremistische Gruppen glauben, sie können mit spektakulärer Gewalt daraus ausbrechen. Ähnlich wie der linke Terrorismus in Europa in den 70er Jahren. Im Rückblick wird deutlich, dass dessen Taten einem Gefühl der Krise und des Verfalls entsprangen. Die islamistische Bewegung ist zweifach gescheitert, einmal beim Versuch, friedlich einen Systemwechsel herbeizuführen und beim Versuch, die Regierungen gewaltsam zu stürzen.

Wie wird es weitergehen?

Ich denke, der 11. September fördert die Rückkehr zu einer moderaten, friedlichen islamistischen Opposition, die sich in der Zivilgesellschaft, dem Kampf um Menschenrechte und Freiheit engagiert. Wenn die USA nach einem Krieg gegen den Irak ernsthaft versuchten, dort eine Demokratie mit einer liberalen Verfassung und Wahlen einzuführen, hätte dies enorme Auswirkungen auf die arabische Welt: Sie wären vergleichbar mit denen der Perestroika auf Osteuropa.

Das Gespräch führte Andrea Nüsse

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