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2010

© epd

Politik: Januskopf der Geschichte

Apropos „Das Amt“: Die Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland hat lange vor 1968 begonnen. Und sie war immer geprägt von großen Ambivalenzen

Im berühmten Monat Mai 1968 erschien im „Staatsverlag der DDR“ in Ost-Berlin eine überarbeitete und erweiterte Auflage des drei Jahre zuvor erstmals vorgelegten „Braunbuchs“ über „Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und Westberlin“. Als Herausgeber fungierten der „Nationalrat der nationalen Front des demokratischen Deutschland“ und das „Dokumentationszentrum der Staatlichen Archivverwaltung der DDR“.

Der Band enthält auf seinen 439 Seiten neben der Anprangerung von früheren NS-Funktionären in Regierung, Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Militär und Wissenschaft auch ein 44-seitiges Kapitel über „Diplomaten Ribbentrops im Auswärtigen Dienst Bonns“. Darin werden unter anderem 228 damals im Auswärtigen Amt aktive Diplomaten mit ihren (angeblichen) Funktionen und Verstrickungen in NS-Diktatur, Kriegsverbrechen und die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden akribisch aufgelistet.

Soweit dort der Anteil des Auswärtigen Amts an der „Endlösung der Judenfrage“ beschrieben wurde, fehlen weder die Wannsee-Konferenz noch die logistische Mittäterschaft an Adolf Eichmanns blutiger Bürokratie; auch nicht der AA-Abteilungsleiter Franz Rademacher, dessen Reisekostenabrechnung wegen „Liquidation von Juden“ zu den gräulichen Details der soeben erschienenen Studie „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ zählt. Auf der „Braunbuch“-Liste der belasteten und 1965 noch aktiven bundesrepublikanischen Diplomaten findet sich im Übrigen auch der 2003 verstorbene Franz Nüßlein – ein blutiger Jurist und späterer Generalkonsul in Barcelona, über dessen Nachruf im Amt und in der Öffentlichkeit jene Diskussion entbrannte, die dann im Auftrag von Außenminister Joschka Fischer zur großen Untersuchung deutscher diplomatischer Zeitgeschichte führte.

Ein Teil der Öffentlichkeit, vor allem die Generation(en) der nach 1968 Geborenen, gewinnt hierbei wohl den Eindruck, als käme das alles überhaupt erst jetzt zum Vorschein. Und tatsächlich ist die von den Historikern Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann vorgelegte Studie fundamental. Doch sie hat wie alle Erinnerungsarbeit und Gedächtniskultur ihre eigene Vorgeschichte. Eine Wunde ist wieder aufgebrochen, aber die Wunde war immer da. Und auch die, die sie untersuchen wollten und die, die sie mit einigem Erfolg zu verdecken, zuzupflastern oder gar zu leugnen suchten.

Von Anfang an hatte Deutschland seit 1945 ein Janusgesicht. Die Niederlage im Krieg war auch die Befreiung von der Diktatur. Es gab das Antlitz des Neuanfangs und zugleich das Erbe der Verbrechen und dahinter die Masken des Verbrechens und der sich tarnenden Verbrecher. Es gab echte Scham und schamlosen Opportunismus, es gab im Kollektiven wie in den oft in sich zerrissenen individuellen und familiären Biographien das Gemisch aus Erinnern und Verdrängen.

Verdrängung übrigens nicht nur bei den Tätern oder Mitläufern. Auch viele Opfer, die in den Lagern oder im Untergrund überlebt hatten, wollten sich aus elementarem Selbstschutz nicht dauernd an ihre Erniedrigung, Todesangst und den Horror des Miterlebten erinnern. Unbehagen vor dem Unheimlichen im Leben der Eltern hatten auch die Kinder – so ist in Israel beispielsweise das große Gespräch zwischen den Generationen mit tausenden Zeugnissen der „oral history“ erst Mitte der 80er Jahre in Gang gekommen: als die Kinder schon selber Eltern waren und die eigene Vorgeschichte durch Alter und nahenden Tod der historischen Zeugen zu versiegen drohte.

Triebkraft der frischen und meist nicht freiwilligen Erinnerung war im Nachkriegsdeutschland zunächst die Justiz der alliierten Siegermächte. Und gleich im ersten Hauptkriegsverbrecher-Prozess in Nürnberg, der vom 18. Oktober 1945 bis zum 1. Oktober 1946 dauerte, gehörte Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop zu den Schuldigen und am Ende zum Tode Verurteilten. Die Mitverantwortung des Auswärtigen Amts für Krieg und Genozid stand schon damals aufgrund zahlreicher, schnell aufgefundener Dokumente nicht in Frage.

Mit sehr viel milderen Urteilen wurde dies 1947-49 auch im „Wilhelmstraßenprozess“ in Nürnberg bestätigt. Prominentester Angeklagter der dort vertretenen Repräsentanten des Auswärtigen Amtes war der ehemalige Staatssekretär (und ehrenhalber SS-Gruppenführer) Ernst von Weizsäcker, der Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.

Auch in der Person des Diplomaten von Weizsäcker zeigte sich exemplarisch der Januskopf deutscher Geschichte – und deutscher Eliten: ein gebildeter Adliger mit Kontakten zu Widerständlern, womit er sich in Nürnberg verteidigte; zugleich ein wohl mehr als nur latenter Antisemit, der (hierauf macht die neue Studie aufmerksam), die bereits in Nürnberg bekannten Anordnungen zur Deportation der französischen Juden 1942 mit noch eigener Bekräftigung abgezeichnet hatte.

Die Reeducation durch die westlichen Siegermächte und die erste Nachkriegsjustiz in West- und Ostdeutschland mit unter anderem zwölf Verfahren gegen Organisationen und Einsatzgruppen der Nationalsozialisten allein in Nürnberg war nur ein Anfang. Aber auch schnell ein Alibi.

Hitler, Goebbels und Himmler hatten sich ohnehin schon selbst gerichtet, im Übrigen habe man, so hieß es bald, die Großen in Nürnberg und andernorts gehängt, da konnte man die vielen (vermeintlich) Kleinen doch laufen lassen. Oder sie, wie die Weizsäckers, Krupps und Flicks, alsbald begnadigen. Konrad Adenauer, der persönlich unbelastete erste Bundeskanzler, war in Machtfragen ein Machiavellist und in Moralangelegenheiten katholisch-pragmatisch, das heißt, mit Schuldablässen vertraut. Adenauer wusste, wie bald auch die Alliierten, dass sich ein neuer prosperierender deutscher Staat kaum aufbauen ließ, wenn man nicht auch die alten Funktionseliten nutzte und möglichst reibungslos in den demokratischen Staat integrierte.

Die Entnazifizierungs-Verfahren mit den immer zahlreicheren „Persilscheinen“ hatten dazu in den westlichen Besatzungszonen bis 1949 schon beigetragen (und die Amerikaner stellten einen Wernher von Braun, der von KZ-Häftlingen Hitlers V2-Raketen bauen ließ, nicht vor Gericht, sondern machten ihn zum Helden ihrer Weltraumfahrt).

Nicht grundsätzlich anders geschah es in Ostdeutschland. Zwar gerierte sich die DDR ab 1949 mit ihrem antifaschistischen Selbstverständnis offiziell weit rigoroser in der Abrechnung mit dem NS-Staat. Indes war man selber kein neuer Rechtsstaat und stand unter dem Patronat von Stalin. Auch in der DDR wurden in Verwaltung, Armee, Geheimdienst und Staatsbetrieben nazistisch vorbelastete Wendehälse zum Aufbau des nationalen Sozialismus beschäftigt. Vor allem gehörte die aus der Emigration (wie Ulbricht) oder den NS-Zuchthäusern (wie Honecker) heimgekehrte Staatsspitze zu den selbst erklärten „Siegern der Geschichte“: was eine Aufarbeitung der Vergangenheit, etwa der früheren KPD und des tatkräftigen Anteils der Arbeiterschaft am NS-Staat, tabuisierte. Zudem ließen sich mit der anti-israelischen Außenpolitik der SED die antisemitische Affekte gut konservieren oder kompensieren.

Noch einmal zurück zum erwähnten „Braunbuch“ der DDR: In ihrem Vorwort rühmen sich 1968 die ansonsten namentlich nicht genannten Herausgeber und Verfasser, dass auf Grund ihrer „Enthüllungen und unterm Druck der weltweiten Proteste im westdeutschen Staat mehr als 300 Nazi- und Kriegsverbrecher aus ihren Ämtern entfernt werden“ mussten. Viele von ihnen enthielten freilich „hohe Pensionen aus Steuergeldern“, und durch die „verstärkte Renazifizierung“ unter dem ehemaligen NS-Parteimitglied und CDU-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger habe sich der Anteil einstiger NS-Funktionsträger in den westdeutschen Machteliten sogar verstärkt. Das Buch nennt dazu über 2300 Bundesbürger beim Namen.

Klar ist, dass das vom SED-Politbüro in Auftrag gegebene Werk zu eigenen Propagandazwecken diente. In der Bundesrepublik wurde die Dokumentation als Denunziation geschmäht, ein „Braunbuch“- Stand auf der Frankfurter Buchmesse sogar beschlagnahmt. Und ein lanciertes Gegen-„Braunbuch“ nannte knapp 900 Namen angeblicher oder tatsächlicher Ex-Nazis in verantwortlichen Positionen der DDR. Nach einem Reprint des Original-„Braunbuchs“ im Jahr 2002 attestierte der Historiker Götz Aly dem Werk allerdings, trotz aller Agitation, zu 99 Prozent zutreffende Recherchen.

Man konnte es wissen, man hätte es wissen können. Und nicht nur aus anrüchigen Quellen. Doch zur Ambivalenz von Erinnerung und Verdrängung, von Gedächtnis und Vergessen gehören die sozialen, medialen, zeitgeistigen Wellen- und Wendebewegungen. Gehört, um gehört zu werden, der oftmals zufällige richtige Augenblick. Der amerikanische Historiker Christopher Browning, der schon 1978 eine gleichfalls fundamentale Studie über das Auswärtige Amt und dessen Verstrickung in den Holocaust veröffentlicht hatte, ist schon vor knapp zehn Jahren auch in Deutschland durch seine Untersuchung über das massenmörderische NS-Polizeibataillon 101 bekannt geworden. Aber seine Arbeit über das Auswärtige Amt ist erst vor einigen Monaten in einem eher publikumsfernen Wissenschaftsverlag auf Deutsch erschienen.

Die größte Legende in der Geschichte der deutschen Gedächtniskultur ist freilich die: Erst im mythischen Jahr 1968 oder mit der sogenannten 68er-Bewegung und ihrer Abrechnung mit der Vätergeneration sei in der Bundesrepublik das Schweigen über die NS-Untaten gebrochen worden. Diese hartnäckige Legende wurde nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen über den Bau des Berliner Holocaust-Mahnmals oder die angeblich auch gewalttätige 68er-Vergangenheit des früheren Außenministers Joschka Fischer genährt. Anfang 2001, als Fischer wegen eines durch Fotografien belegten, Jahrzehnte zurückliegenden Gerangels mit einem Frankfurter Polizisten von der Union attackiert wurde, erklärten nicht nur Fischers Verteidiger einmal mehr im Brustton der Überzeugung, man habe um 1968 gegen polizeistaatsähnliche Verhältnisse, aber auch gegen das Schweigen der eigenen „Nazi-Eltern“ rebellieren müssen.

Tatsächlich war die Bundesrepublik, insbesondere vor der sozialliberalen Koalition unter dem ehemaligen Emigranten Willy Brandt (ab 1969), unendlich viel autoritärer in Staat und Gesellschaft als heute. Auch hiergegen protestierten die Studenten und später die Außerparlamentarische Opposition seit 1963/64.

In der öffentlichen Protestbewegung jedoch spielte das Verhältnis zur NS-Zeit keine dominierende Rolle. Schon der Spruch noch ordentlich frisierter, Krawatten tragender Studenten, die den „Muff von 1000 Jahren“ unter den Talaren angriffen, meinte nicht das „Tausendjährige Reich“ oder eine (häufig reale) NS-Verstrickung ihrer Universitätsprofessoren: Hierfür hätte das Wort „Muff“ dann kaum ausgereicht. Im Übrigen war die Rebellion der Achtundsechziger auch keine deutsche Erfindung. Sie bezog ihre anstiftenden Energien von der angelsächsischen Popmusik und den Protestsongs der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung; der Krieg in Vietnam, nicht der Zweite Weltkrieg spielte bei den Demonstrationen eine Rolle – und die neu entdeckte Kritische Theorie (Adorno, Horkheimer) oder die Neomarxismus und Psychoanalyse verbindenden Schriften Marcuses und Wilhelm Reichs. Für die allgemeine Gedächtniskultur, nicht so spezifisch für die Studentenrevolte war auch Alexander und Margarete Mitscherlichs 1967 erschienenes Buch über „Die Unfähigkeit zu trauern“ von langfristiger Bedeutung.

Dagegen war der allgegenwärtige „Faschismus“-Verdacht gegenüber den „herrschenden Verhältnissen“ an keinen spezifischen Bezug mehr zur deutschen Geschichte gebunden; er konstruierte vielmehr eine bereits globale, makro-ökonomische Verschwörung von Kapital und Staatsmacht. Wenn, dann protestierten in den Sechzigern nicht Hitlers Nachkommen gegen ihre Überväter. Sondern die zumeist bürgerlichen „Kinder von Marx und Cola“, wie der Filmregisseur Jean-Luc Godard sie nannte. Fälle wie das Aufbegehren eines Bernward Vesper, des Ex-Mannes von Gudrun Ensslin, waren eher eine Ausnahme. Vesper begann Ende der 60er Jahre seinen Roman „Die Reise“ zu schreiben, eine erschreckende, tief berührende und verstörende Abrechnung mit seinem Vater, dem NS-Schriftsteller Will Vesper. Der Sohn Bernward nahm sich 1971 in einer Hamburger Psychiatrie das Leben, und das Buch erschien posthum erst 1977.

Die Vergangenheit war aber auch vorher nie vergangen. Schon 1945/46 publizierte Eugen Kogon sein nach der Befreiung aus Buchenwald begonnenes Grundlagenwerk „Der SS-Staat“, und in den Kinos lief Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“. Das Tagebuch der in Bergen-Belsen ermordeten Anne Frank war seit Beginn der 50er Jahre ein Bestseller, Dokumentationen mit den Bildern von den Leichenbergen aus Auschwitz, Bergen-Belsen und Dachau wurden Ende der 50er Jahre im jungen westdeutschen Fernsehen gleich nach der „Tagesschau“ gesendet. Ebenfalls um 20.15 Uhr wurde ab 1961 eine tägliche Zusammenfassung vom Eichmann-Prozess aus Jerusalem übertragen. Lange vor Daniel Goldhagens spekulativem Erfolgsbuch „Hitlers willige Vollstrecker“ wurden Karl Jaspers Schriften zur „Kollektivschuld“-These diskutiert, pilgerten 1960 westdeutsche Schulklassen in Erwin Leisers Hitler-Film „Mein Kampf“. 1963 wurde Rolf Hochhuths in Berlin uraufgeführter „Stellvertreter“ (über Papst Pius XII. und das Schweigen des Vatikans zum Holocaust) zum Welterfolg; kurz darauf begann der zweijährige Frankfurter Auschwitz-Prozess, und Peter Weiss' Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ wurde im Oktober 1965 an 16 west- und ostdeutschen Bühnen gleichzeitig uraufgeführt und direkt im ARD-Fernsehen übertragen.

Das ändert nichts am Janus-Gesicht eines Landes, dessen selbstkritische Erinnerungsarbeit nach Ansicht vieler internationaler Beobachter in der ganzen Welt als vorbildlich erscheint. Der erste Bundeskanzler hatte die Versöhnung mit Israel betrieben, aber mit Hans Globke einen Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze zu seinem Staatssekretär gemacht. Und der Corps-Geist der einstigen und späteren Eliten hat nicht nur Diplomaten, vielmehr auch furchtbare Juristen am Volksgerichtshof oder KZ-Ärzte, die eben noch mörderische Menschenversuche betrieben, zu neuen Ämtern und Würden verholfen. Als der jüdische Emigrant und Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ohne den es den Auschwitz-Prozess nie gegeben hätte, über die Lehren aus der deutschen Geschichte ab 1965 auch an rheinland-pfälzischen Schulen Vorträge halten wollte, da protestierte ein junger Pfälzer Historiker und Landtagsabgeordneter: Die deutsche Jugend sei dafür noch nicht reif. Sein Name war Helmut Kohl. Aber auch der hatte dann mehr als nur dieses Gesicht.

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