zum Hauptinhalt
Der Wiederaufbau nach der Tsunami-Katastrophe schreitet vielerorts, wie hier in Rikuzentakata, nur langsam voran.

© REUTERS

Wie uns die Zeiten ändern: Japan, Land des Schwächelns

Seit zehn Jahren steckt Japan in der Krise - und findet kein Rezept gegen den Niedergang.

Hiro sitzt einfach nur da. Auf seiner Parkbank. Jeden Tag kommt der junge Japaner in den Park, in dem er als Kind so oft mit seiner Mutter gespielt hat. Inzwischen ist er erwachsen, doch hinaus ins richtige Leben schafft es der Held aus Milena Michiko Flasars Roman „Ich nannte ihn Krawatte“ nicht. Die Parkbank ist für Hiro schon ein großer Schritt nach vorn. Zwei Jahre lang hat er nicht einmal sein Zimmer verlassen. Seine Mutter stellte ihm Essen vor die Tür und erzählte den Nachbarn, ihr Sohn sei als Austauschschüler in Amerika. Wegen der Schande.

In Japan gehört es sich nicht, einfach so auszuscheren. Dennoch verschwinden auch im realen Leben immer mehr junge Japaner über Jahre einfach von der Bildfläche. Hikikomori werden sie genannt. Das heißt so viel wie „sich einschließen“ oder „Rückzug“. Mindestens 100 000 Jugendliche, die sich dem allgemeinen Anpassungsdruck nicht gewachsen fühlen. Bunte Punkfrisuren und wilde Klamotten? Ja, das geht. Jedenfalls so lange man in der Schule ist oder studiert. Doch mit dem Eintritt in die Arbeitswelt hört der Spaß auf. Dann beginnt das Leben als Salaryman, als Angestellter wie sie zu Tausenden in ihren schwarzen Anzügen oder Kostümen auf den Straßen der großen japanischen Städte zu sehen sind. Auch heute noch mit jeder Menge Überstunden und Leistungsdruck. Gleichzeitig wird der Kampf um Arbeitsplätze ähnlich wie in vielen europäischen Ländern gerade für die Jungen immer härter. Denn auch Japan schwächelt.

Es gibt keine soziale Absicherung

Früher seien junge Japaner nach der Ausbildung in ein Unternehmen gegangen und dort bis zur Rente geblieben, sagt Akira Miyabe, Grünenaktivist der ersten Stunde. Das habe sich radikal geändert. Er geht davon aus, dass rund die Hälfte heute keinen festen Job findet. „Sie halten sich mit Tagesjobs über Wasser oder sind arbeitslos“, berichtet der 58-Jährige. Doch es gibt in Japan keine soziale Absicherung wie in Europa. Unterstützung wird in der Regel nur wenige Monate gezahlt. Die Jungen bekommen meist gar nichts. Besserung ist nicht Sicht. Die seit dem Finanzcrash 1990 in Gang gesetzte Staatsverschuldung ist inzwischen sogar höher als die von Griechenland. Das Land findet kein Rezept gegen die Wirtschaftskrise und auch keins gegen seine strukturellen Probleme. Die sind zwar ähnlich wie die in Europa oder in den USA, doch in Japan ist alles noch viel schlimmer. Japans Geburtenrate ist die niedrigste der Welt, die Lebenserwartung die höchste.

In nicht allzu ferner Zukunft wird das Verhältnis von Arbeitnehmern zu Rentnern eins zu eins betragen. Kataguruma, Huckepackmodell, nennen das die Japaner. Ein Angestellter wird dann allein für einen Rentner sorgen müssen. Und das können nicht einmal die Japaner mit ihrer legendären Arbeitsmoral schaffen. Nach Dienstschluss nach Hause gehen, obwohl der Kollege noch weitermachen muss? Das machen auch heute nur wenige. Erst die Arbeit, dann die Familie. „Die Wirtschaft hat über Jahrzehnte das gesellschaftliche Leben in Japan bestimmt. Mit dem Aufschwung waren Wohlstand und soziale Sicherheit verbunden. Dem haben die Menschen alles untergeordnet“, sagt Akira Miyabe. Doch der Mythos Japan bröckelt. Denn was nach dem Krieg den Aufstieg des Landes ermöglichte, der aus westlicher Sicht an Selbstaufgabe grenzende Kollektivsinn, gepaart mit einer allmächtigen Staatsbürokratie, die auch die Wirtschaft lenkte, begünstigt nun den Abstieg. Träge und betriebsblind geworden, verschlief die Japan AG wichtige Trends, und kaum jemand wagt sich aus der Masse hervor, um Missstände anzuprangern oder politische Führung einzufordern.

Im IT-Geschäft sind die Japaner nicht mehr vorn dabei

In den 80er Jahren hieß Apple noch Sony. Wer damals technisch auf der Höhe der Zeit sein wollte, der ging ohne einen Sony-Walkman nicht auf die Straße. „It's a Sony“, lautete ein legendärer Werbespruch. Heute schreibt der einstige Kulthersteller rote Zahlen und muss 10 000 Arbeitnehmer entlassen. Anderen Traditionsmarken geht es nicht besser, weil die Konkurrenz aus Südkorea und China nicht mehr nur billig ist, sondern auch gut. Von Apple ganz zu schweigen. Im IT- und Mobilfunkgeschäft sind die Japaner nicht mehr ganz vorn mit dabei. Und auch die Autoindustrie hat Boden verloren. „Wenn die Zahl und die Qualität der japanischen Ingenieure weiter sinkt, wird auch die globale Konkurrenzfähigkeit des Landes weiter sinken“, klagt Kazuo Nishimura, Professor für Wirtschaftsmathematik an der Universität in Kyoto, in einem Aufsatz zur mathematischen und wissenschaftlichen Ausbildung in Japan. Angesichts der Bevölkerungsentwicklung müsste Japan trotz der Krise dringend mehr Fachkräfte anwerben. Doch damit tut sich das Land schwer. Weit schwerer noch als Deutschland. Die Einwanderungsbestimmungen sind streng, die Gesellschaft verschlossen wie kaum eine andere. Zum Vergleich: 8,8 Prozent beträgt der Ausländeranteil an der Bevölkerung in Deutschland, 1,7 Prozent in Japan. Immerhin hat er sich seit 1990 verdoppelt.

Wer verstehen will, warum Japan den Anschluss verpasst hat, sollte nach Rikuzentakata schauen. Oder nach Fukushima. Denn das Krisenmanagement nach dem großen Beben 2011 scheint symptomatisch für den Zustand des Landes. Rikuzentakata liegt an der Ostküste Japans. Das heißt: Es lag an der Ostküste Japans, bevor der Tsunami es im März 2011 fortschwemmte. Wo einst schöne Holzhäuser standen und direkt am Strand ein großer Pinienwald, ist im März 2012 nichts als graue Wüste. Allein in den Schuttbergen am Rand der riesigen Fläche gibt es einige Farbsprenkel – Plastikkanister und Stoffreste, die zwischen geborstenen Holzbalken festklemmen. 80 Prozent von Rikuzentakata wurde vor einem Jahr zerstört, 1800 der einst 25 000 Einwohner kamen um. Und der Albtraum ist noch immer nicht vorbei. Viele Überlebende wohnen weiter in Notunterkünften, alle zwei bis drei Wochen wird eine Leiche angespült. Auch die Frau von Futoshi Toba, dem Bürgermeister, gehört zu den Opfern. Seine beiden Kinder mussten um ihr Leben rennen, als die Welle auf ihre Schule zurollte. Toba selbst konnte sich mit einigen Mitarbeitern auf das Dach des Rathauses retten. 68 seiner Kollegen schafften es nicht. Heute ist in der schlammigen Ruine des Rathauses ein kleiner Gedenkaltar aufgebaut. Wo einmal Fenster waren, flattern nur noch ein paar Gardinenfetzen. Dabei war Rikuzentakata besonders gut vor der Flut geschützt. Nach früheren Tsunamis hatte die Stadt eine hohe Barriere errichtet, doch genau die wurde den Bewohnern am 11. März 2011 letztlich zum Verhängnis. Als die ersten Tsunamiwarnungen kamen, verließen viele ihre Häuser erst gar nicht. Sie hatten sich in der vermeintlichen Sicherheit eingerichtet, so wie sich das ganze Land nach Jahrzehnten des Aufschwungs auch wirtschaftlich in Sicherheit wog.

Nur wenige üben offen Kritik an der Regierung

Doch dann geschah das Unvorstellbare. In Rikuzentakata stieg das Wasser nach einer ersten, noch beherrschbaren Welle mehr als 15 Meter hoch. Für die meisten, die geblieben waren, gab es kein Entrinnen mehr. Nun heißt es improvisieren, um den Wiederaufbau zu beschleunigen. Doch während der kleine Sojasaucenhersteller der Stadt an einem Standort weiter im Hinterland längst wieder den Betrieb aufgenommen hat, bewegt sich in Rikuzentakata auch ein Jahr nach dem Unglück außer ein paar Baggern, die am Rand die Schuttberge umschichten, praktisch nichts. Bürgermeister Toba, der heute in Anzug und mit Krawatte in einem Container arbeitet, macht dafür vor allem die starre Bürokratie in Tokio verantwortlich. Als die Stadt schnell einen neuen Supermarkt errichten wollte, erzählt er, habe Tokio Subventionen zurückverlangt, weil das Baugrundstück bis dahin als landwirtschaftliche Fläche genutzt worden sei. „In einer Notlage muss es doch pragmatische Lösungen geben“, klagt er. Toba wirkt müde. Und resigniert. Beim Reden schaut er meist ins Leere, seine Hände liegen regungslos gefaltet auf dem Schoß. Seine Mitarbeiter tragen weiße Arbeitsanzüge, um wenigstens ein bisschen Aufbruchstimmung zu verbreiten.

Toba ist einer der wenigen, die offen Kritik üben am Krisenmanagement der Regierung. So etwas gehört sich in Japan nicht, schließlich droht dem Gescholtenen der Gesichtsverlust. Auch die Presse hält sich zurück. Handlungsdruck schafft man so allerdings nicht. Elf Monate hat die Regierung allein gebraucht, um eine Behörde zu schaffen, die den Wiederaufbau koordinieren soll. Lokale und überregionale Behörden schieben die Verantwortung für Wiederaufbauprojekte hin und her, Entscheidungen werden immer wieder vertagt. Für die vielen älteren Bürger in Rikuzentakata , mehr als 30 Prozent sind älter als 60, ist das die Katastrophe nach der Katastrophe. Acht Jahre soll der Wiederaufbau Rikuzentakatas dauern und schon jetzt hinkt man im Plan hinterher. Wie soll man sich mit 65 oder 70 da noch einmal aufraffen?

In Japan stellt man sein Schicksal nicht über das der Gemeinschaft

Sicher fühlten sie sich auch in Fukushima, der Hauptstadt der Provinz, in der das havarierte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi liegt. „Wir dachten nicht, dass sich die Strahlung so weit ausbreitet“, sagt Kazuhiko Shigishra. Der freundlich lächelnde ältere Herr in weißem Oberhemd und dunkler Clubjacke leitet das Überwachungszentrum für radioaktive Strahlung der Stadt, das allerdings erst im November 2011, acht Monate nach dem Atomunfall, eröffnet wurde. Nun können Bürger Fukushimas hier Lebensmittel untersuchen lassen, Bauern sind verpflichtet, Proben ihrer Produkte zu bringen. Die Geräte dafür wurden nach dem Atomunfall aus Weißrussland importiert, denn in der 300 000-Einwohner-Stadt gab es weder Geigerzähler noch einen Krisenplan. Shigishra kann das erklären: Schließlich seien die regionalen und nationalen Behörden und nicht die Stadt für die Sicherheit rund um das Atomkraftwerk verantwortlich. Alles war also geregelt, nur dass die Dinge eben nicht nach Plan liefen.

In Fukushima-Stadt werden bis heute erhöhte Strahlenwerte gemessen. In Grünanlagen, privaten Gärten, Schulen. Über mögliche Langzeitfolgen streitet die Wissenschaft. Wer wegziehen will, erhält aber keine Unterstützung. Nicht vom Staat und auch nicht von der Gesellschaft, denn in Japan stellt man sein eigenes Schicksal nicht über das der Gemeinschaft. Diese Einstellung hat das Land groß gemacht. Für sie wurden die Japaner weltweit bewundert, wenn auch nicht immer beneidet. Doch was nützen die alten Tugenden noch, wenn heute selbst altgediente Angestellte aus dem System herausfallen und auf der Straße landen? „Die Leute spüren, dass es keine Sicherheit mehr gibt“, sagt der Grüne Akira Miyabe, „sie wissen, dass es so nicht weitergehen kann“. Und langsam regt sich Widerstand. Als erstes gegen die Atomkraft. Nach Fukushima protestierten in Tokio erstmals bis zu 20 000 Menschen.

Aufständische prangern Konformismus und Konsumwahn an

Einer der Initiatoren der Anti-Atom-Proteste ist Hajime Matsumoto. Der 37-Jährige ist so etwas wie ein Aussteiger. „Ich habe schon als Student gemerkt, das bei uns etwas nicht stimmt“, sagt er, „all die Arbeit, nur um immer mehr zu konsumieren. Und doch sind die Leute nicht glücklich.“ Im Tokioter Stadtteil Koenji, eine Art japanisches Kreuzberg oder Friedrichshain, betreibt Matsumoto nun mehrere Secondhandläden, in denen er Möbel und Elektrogeräte verkauft. Seine Kunden sind Arbeitslose und andere Aussteiger. In Koenji haben sie sich organisiert und nennen sich „Shiroto No Ran“, „Aufstand der Amateure“. Der Aufstand richtet sich gegen Konformismus und Konsumwahn, „weil das unser Land direkt in die Katastrophe führt“, sagt Matsumoto.

Von einem Massenaufstand ist Japan aber weit entfernt. Nicht einmal die Dominanz der beiden großen japanischen Parteien scheint in Gefahr. Bis 2009 regierten fast ununterbrochen die Liberaldemokraten, inzwischen ist die Demokratische Partei an der Macht. Geändert hat sich damit kaum etwas, denn beide Parteien werden durch Grabenkämpfe ihrer Flügel gelähmt. Der Einfluss der Industrielobby ist groß, die personelle Verflechtung mit den großen Konzernen ebenso. Für den Premier, derzeit der Demokrat Yoshihiko Noda, ist es da kaum möglich, Reformen durchzusetzen – auch wenn Noda seit seinem Amtsantritt im August 2011 immer wieder verspricht, „dass die Zeiten ohne politische Entscheidungen“ nun vorbei sein sollen. Noch scheinen die Bürger dem zu vertrauen. Ausländische Landeskenner sind aber skeptisch. In Japan, sagen sie, gebe es keinen unbeliebteren Job als den des Premiers – und keinen beliebteren als den des Ex-Premiers, denn als solcher kann man vortrefflich die Interessen der eigenen Klientel verfolgen.

Der Tsunami hat die Politik nicht verändert

Die Hoffnung vieler Japaner, dass die Tsunamikatastrophe die Politik endlich aus ihrer Verantwortungslosigkeit reißt, hat sich bisher nicht erfüllt. Über Monate schoben sich die Regierung in Tokio und die Provinzregierungen in diesem Frühjahr den Ball zu, als es darum ging, ob und wann die nach dem Atomunfall abgeschalteten Atommeiler des Landes wieder ans Netz gehen sollen. Jeder sah den anderen in der Pflicht, Entscheidungen zu treffen. Seit Mai war dann gar keiner der insgesamt 50 japanischen Reaktoren mehr in Betrieb. Nun werden zwei doch wieder hochgefahren – auf Anordnung des Premiers, doch mit Zustimmung des zuständigen Gouverneurs der Provinz Fukui, wie Premier Noda ausdrücklich mitteilen ließ. Vor dem Regierungssitz in Tokio protestierten dagegen diesmal nur ein paar hundert Menschen.

Die großen Anti-Atomkraft-Demonstrationen sind längst abgeebbt. „Die Leute geben einfach zu schnell auf, deshalb stecken wir auch in der Krise“, sagt Aktivist Hajime Matsumoto, der nun meist wieder in seiner grau-grünen Arbeitsjacke und der blauen Latzhose hinter dem Tresen in seinem Laden steht. Dort verkauft er auch deutsche Anti-AKW-Anstecker, für 150 Yen das Stück, gut 1,50 Euro. Auf einem weißen Papprest aufgesteckt hängen sie gut sichtbar zwischen gebrauchten Mixern, Bügeleisen und Reiskochern. Mit dem Erlös unterstützt Matsumoto ein Arbeitslosenprojekt von „Shiroto-No-Ran“. Die Initiative betreibt eine Kneipe, in der Arbeitslose jeweils einen Abend lang Chef werden können und dafür die Tageseinnahmen kassieren. Und so ist aus dem Aufstand gegen Konsumterror nun auch ein Aufstand gegen die Krise geworden

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false