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Kaukasus: Armenier und Aserbaidschaner streiten um Berg-Karabach

Im Konflikt um die Kaukasusenklave Berg-Karabach gibt es keine Bewegung. Die Leidtragenden sind die Flüchtlinge.

Im Hof spielen Kinder. Ihre Schreie und ihr Lachen fallen durch die offenen Fenster ins Klassenzimmer. Dort auf den Stühlen sitzen ihre Eltern und hören still Tunzala Velimamedova zu, die dem Besucher von dem Krieg um die Region Berg-Karabach erzählt, der vor mittlerweile 16 Jahren zu Ende ging. „Ich hatte gerade mit dem Computerkurs begonnen, als die Raketen einschlugen. Dann kamen die Armenier, und wir mussten fliehen.“ Sie macht eine Pause. „Wir sind Opfer, aber die Welt hat uns vergessen.“

Tunzala Velimamedova ist 66 Jahre alt und war Direktorin der Schule in Agdam, als der Krieg in ihren Ort kam. Heute leitet sie die Schule im Dorf Banovshalar, was übersetzt Veilchen bedeutet, und spricht über die Toten und die Schrecken ihrer Flucht. Einmal ist sie dafür sogar bis nach Abu Dhabi gereist, um auf einem Kongress vertriebener Frauen von ihrer Trauer über die verlorene Heimat zu erzählen.

Der Sehnsuchtsort von Tunzala Velimamedova ist nur knapp zehn Kilometer von Banovshalar entfernt. Dort sieht man ein paar Mauerreste und Bombenkrater, zwischen denen Büsche wachsen. Was einmal die Stadt Agdam war, liegt in der gleichnamigen, seit 1993 von armenischen Truppen besetzten Provinz Aserbaidschans, die von einem System aus Gräben, Stacheldrahtzäunen und Minengürteln durchzogen wird. Gleich neben der Waffenstillstandslinie von 1994 hat das aserbaidschanische Flüchtlingsministerium Banovshalar gebaut. Knapp 2000 Menschen sind vor vier Jahren aus Zelten in die neuen Häuser gezogen. Es gibt ein Ärztehaus und eine Post, einen Kindergarten und eine Schule, sogar eine Bücherei, sagt Tunzala Velimamedova. Für Tunzala Velimamedova aber ist das neue Dorf mit dem poetischen Namen nur noch ein weiteres Lager, das sie verlassen wird, sobald der Konflikt mit den Armeniern endgültig gelöst ist. „Unsere Armee ist stark. Wir werden Sieger sein“, sagt sie.

Nun brauchte einen die Drohung einer alten Schuldirektorin nicht allzu sehr zu interessieren, wenn Agdam und Banovshalar nicht im Kaukasus lägen – in jener Gegend also, in der Diplomatie an eine Partie Mikado erinnert. Jede falsche Bewegung bringt nicht nur das Spiel zum Einstürzen, sondern lässt auch die Spieler aufeinander losgehen, ob in Tschetschenien, Dagestan, Georgien oder Berg-Karabach. Der Konflikt um das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende, aber von heute rund 150 000 Armeniern bewohnte und besetzte Berg-Karabach ist in den Augen vieler Experten ein Pulverfass, das demnächst hochgehen könnte. In mehreren Resolutionen hat die UN den Abzug armenischer Truppen aus den besetzten Gebieten gefordert, aber auch die Vermittlung durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat bisher nichts bewegt.

Flüchtlinge wie Tunzala Velimamedova sind Teil des Spiels. Aus Berg-Karabach und den angrenzenden besetzten Gebieten, die fast 20 Prozent des aserbaidschanischen Staatsgebiets ausmachen, wurden während des Krieges 576 000 Aserbaidschaner vertrieben. Viele von ihnen wohnen nicht wie Tunzala Velimamedova in neuen Bauernhäusern, sondern sitzen knapp zwei Jahrzehnte später immer noch in Lagern aus alten Containern und Bretterbuden fest.

„Knapp 400 000 Flüchtlinge leben noch in prekären Verhältnisse“, sagt Ali Hasanov, „100 000 Menschen aber sind schon in neue Dörfer umgezogen“. Der 62 Jahre alte Politiker ist seit dem Jahr 1998 Minister für Flüchtlingsfragen. Sein Amtssitz liegt an einer der vielen breiten Straßen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Wenn es nach dem Krieg keine internationale Hilfe gegeben hätte, fährt Hasanov fort, wäre es zu einer Katastrophe gekommen. Dank der sprudelnden Öleinnahmen könne Aserbaidschan jetzt aber selbst für seine Flüchtlinge sorgen. „Letztes Jahr haben wir 450 Millionen Dollar für die Flüchtlingshilfe ausgegeben.“

Hasanov schlägt ein schweres Buch auf, das die Leistungen seines Ministeriums aufzählt, und zeigt auf einer Karte die vielen Standorte der Lager, die über ganz Aserbaidschan verteilt sind. Die fast 190 000 Aserbaidschaner, die seit 1987, dem Beginn des Konflikts, aus Armenien geflohen sind, bekämen neues Land, sagt er. Die Flüchtlinge aus Berg-Karabach und den besetzten Gebieten aber könnten Land nur pachten. „Sie kehren ja wieder in ihre Heimat zurück.“ Wann das sein wird? „Wir wollen eine friedliche Lösung, aber wir verlieren das Vertrauen in die internationalen Institutionen, vielleicht wird es bald Krieg geben“, erklärt der Minister wie selbstverständlich, klappt das Buch zu und schenkt es dem Besucher.

„Das Bluffen mit Krieg ist sinnlos, Russland steht auf der Seite Armeniens“, glaubt Hikmat Hajizade. Der Politiker der kleinen oppositionellen Volksfront- Partei sitzt in einem Café in Bakus aufwendig renovierter Altstadt und schaut eher besorgt in die Zukunft seines Landes, in dem es nur eine eingeschränkte Meinungsfreiheit gibt. Es gäbe in Aserbaidschan viel zu tun, aber der Konflikt um Berg-Karabach überlagere alles andere. „Was passiert nach dem Ölboom? Werden wir ein Land mit moderner Industrie sein? Eine entwickelte Demokratie mit einer offenen Gesellschaft?“, fragt er.

Im Streit um Berg-Karabach kämpfen Armenier und Aserbaidschaner erbittert um das richtige Bild von der Geschichte. Bis ins Altertum werden die Fronten verschoben: Für die Armenier ist das Gebiet, das ungefähr so groß ist wie das Saarland, ur-armenische Erde, von der damals Anstöße zur nationalen Einigung ausgingen. Für Aserbaidschaner gehört Berg-Karabach zum antiken kaukasischen Albanien und ist damit Teil aserbaidschanischer Geschichte. Wer wann wo zuerst siedelte, ist im Kaukasus oft genug eine Frage auf Leben und Tod. „Historiker sind bei uns manchmal genauso wichtig wie Politiker und Generäle“, sagt Ruslan Asad, der in Baku für ausländische Stiftungen arbeitet.

Wie groß die Macht der Geschichte ist, spürt man, wenn man dem Flüchtlingsminister Hasanov zuhört. Er hat seiner verstorbenen Mutter versprochen, sie in ihrem Geburtsort in Berg-Karabach neben ihrem Mann zu beerdigen. „Und so wird es geschehen, sonst wird mich ihr Geist immer verfolgen.“

Tobias Asmuth

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