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Kirchenvertreter in Berlin: Die Lobbyisten des Herrn

Der eine ist evangelisch, der andere katholisch. Aber sie haben ein gemeinsames Ziel. Die Prälaten Bernhard Felmberg und Karl Jüsten sind Seelsorger im Deutschen Bundestag. Aber sie vertreten auch die Interessen der Kirchen.

Es ist noch dunkel, als Taxen und schwarze Limousinen vor der Französischen Friedrichstadtkirche auf dem Berliner Gendarmenmarkt vorfahren. Fahrer öffnen die Türen, Bundestagsabgeordnete steigen aus, Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes, Staatssekretäre. Sie besuchen an diesem Morgen einen Gottesdienst, die Adventsandacht der evangelischen Kirche. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit“, singen sie mit geübten Stimmen. Eine halbe Stunde Magnificat statt Euro-Krise, Psalmen statt Gesetzentwürfe, dafür lohnt es sich, früher aufzustehen. Drei U-Bahn-Stationen nördlich beten zur selben Zeit katholische Abgeordnete in der Kapelle der Katholischen Akademie.

Die Kirchen umwerben die Parlamentarier. Dafür haben sie zwei Theologen nach Berlin berufen. Bernhard Felmberg vertritt die evangelische Kirche, Karl Jüsten die katholischen Bischöfe. Sie sind als Seelsorger für die Politiker da. Sie trösten, wenn die Mutter stirbt oder ein Freund, sie taufen die Kinder und segnen Ehepaare. Felmberg und Jüsten sind im Bundestag aber nicht nur Seelsorger, sondern auch eifrige Lobbyisten. Die beiden hören den Begriff nicht so gerne. Sie wollen nicht in einer Reihe stehen mit der Apothekerlobby, Bankern und dem ADAC. Sie verstehen ihr Amt anders. Sie vertreten nicht die Spezialinteressen einer bestimmten Klientel, sondern kämpfen dafür, dass die Gesellschaft menschlich bleibt.

Bernhard Felmberg und Karl Jüsten verstehen sich gut, telefonieren täglich und treten als Team auf. Doch sie sind sehr unterschiedlich – wie ihre Kirchen. Felmberg, Prälat Felmberg, ist seit drei Jahren der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der EU. Er residiert am Gendarmenmarkt, ist 47 Jahre alt, groß, Sportbeauftragter seiner Kirche. Man kann ihn sich gut in Jeans und T-Shirt vorstellen, doch Felmberg gibt sich staatstragend. Er trägt weiße Hemden mit Stehkragen und schwarzen Gehrock, den „Lutherrock“. Bei offiziellen Anlässen baumelt vor seiner Brust ein wuchtiges goldenes Kreuz. Sein Vater war Pfarrer in Berlin, er selbst gehört zur neuen Generation evangelischer Theologen, die Glauben und Amt selbstbewusst vertreten. Felmberg spricht gerne in diplomatisch-distanzierten Sätzen und von sich selbst in der dritten Person als dem „Bevollmächtigten“.

Jüsten kommt aus dem Rheinland, ist Priester, Prälat und hat den nicht minder sperrigen Titel „Leiter des Kommissariats der Deutschen Bischöfe – Katholisches Büro Berlin“. Felmberg betont das Staatstragende des Amtes, Jüsten kämpft dagegen an. Er ist oft in schwarzen Jeans und Jackett unterwegs, das Katholische sieht man ihm nur am Priesterkragen an, der darunter hervorschaut. Zu Terminen fährt er am liebsten mit dem Motorroller und ist auffällig gut gelaunt. Das Katholische Büro ist in einem funktionalen Neubau untergebracht – in katholischer Tradition etwas abseits der politischen und wirtschaftlichen Macht. Jüsten ist seit zwölf Jahren im Amt, so ziemlich jeder im Bundestag kennt auch ihn, manche nennen ihn den „heiligen Karl“. Zu seinem 50. Geburtstag vor einem Jahr gratulierte das halbe Kabinett persönlich.

Zurück zum Gendarmenmarkt. Nach 40 Minuten ist die Andacht zu Ende. „Jetzt gehe ich gestärkt in den Tag“, sagt Jörn Wunderlich am Ausgang. Er ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Linken. „Ein guter Ort, um zu sich selbst zu kommen“, sagt Siegmund Ehrmann von der SPD. Felmberg hat noch zum Frühstück eingeladen in seinen Amtssitz gegenüber. Viele kommen mit. Bei Croissants und Kaffee sprechen sie darüber, was in dieser letzten Sitzungswoche vor Weihnachten noch anliegt im Bundestag. Felmberg schüttelt Hände, klopft Schultern, fragt wie es geht.

Man plaudert über die Fraktionsgrenzen hinweg. „Wenn man hier mal morgens zusammengesessen hat, geht man hinterher im Bundestag anders miteinander um“, sagt eine CDU-Abgeordnete. Dann grüße man sich sogar mit der Kollegin von der Linken. Felmberg und Jüsten sind Lobbyisten – auch für einen anderen Umgang miteinander. Im geschützten Raum der Kirche ist es leichter, zuerst den Menschen zu sehen und nicht gleich den politischen Gegner. Hier kann man Unsicherheiten zugeben und Zweifel und vielleicht ein wenig authentischer sein.

Mechthild Dyckmans, FDP-Abgeordnete und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, schaut auf die Uhr: Um rechtzeitig zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu kommen, müsste sie los. Sie holt sich lieber noch einen Kaffee und bleibt. „Hier kann ich mal durchatmen“, sagt sie. Nachher müsse sie sich von Fraktionskollegen zwar wieder fragen lassen, warum sie „ständig beten geht“. Und sich anhören, dass das mit der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche nichts zu tun habe. Sie wird widersprechen: Die Kirche macht Angebote. Muss ja niemand zur Andacht gehen.

Jüstens und Felmbergs Ämter wurden nach dem Krieg geschaffen. Die Kirchen hatten ihre Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus gezogen und wollten die politischen Entwicklungen beobachten und sich einbringen, auch um die Gefahr einer neuen Diktatur abzuwenden. Der Aspekt der Seelsorge spielte keine so große Rolle wie heute. In Bonn waren die Andachten in der Bundestagskapelle „eher Winkelmessen“, sagt Felmberg. Das Bedürfnis nach Spiritualität hat zugenommen, auch das Bedürfnis nach Zuspruch. Die ethischen Fragen werden komplexer, die Krisen unübersichtlich, ebenso die Deutungsmuster. Heute ist die Kapelle in den Sitzungswochen oft voll, am Ende der Legislaturperiode holen sich die ausscheidenden Politiker den Segen für den Ruhestand und die anderen für den Wahlkampf. Jüsten und Felmberg sind dabei, wenn Ministeriumsneubauten eingeweiht werden, sie feiern Gottesdienste auf den Parteitagen und bei Verbänden. Seelsorge und Lobbyismus greifen dabei manchmal ineinander wie Fahrradkette und Zahnrad.

Jüsten und Felmberg verstehen sich eben auch auf handfeste politische Arbeit. Ein paar Tage später treffen sie sich in der CDU-Parteizentrale. Es ist neun Uhr, der Arbeitstag beginnt auch hier mit einem Gottesdienst. Diesmal in Konferenzraum 2 im Erdgeschoss. Nicht einfach, hier besinnliche Atmosphäre reinzubringen. Der Teppichboden ist grau wie immer, Holzpaneele, Neonlicht. Vorne steht anstelle des Flipcharts ein Tischchen mit Kruzifix. 40 Mitarbeiter sind gekommen, aus der Geschäftsstelle, aus der Konrad-Adenauer-Stiftung, Parteivorstand. Viele junge Gesichter. Jüsten spricht über das „Spannungsverhältnis, in dem Christen heute stehen“. In der Bibel heißt es: „Die Weisung kommt vom Herrn“, in der Demokratie entscheiden aber Mehrheiten, keine göttlichen Weisungen. „Das erzeugt Reibung“, sagt Jüsten, besonders in einer „relativistischen Gesellschaft wie der unseren“. Gänzlich auflösen könne man die Spannung nicht, aber sich immer wieder fragen: Wo stehe ich, was sind die Wahrheiten, die für mich wichtig sind? Nach der Andacht verabschieden sich die Zuhörer schnell, nur einer wartet auf die beiden Prälaten: CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe. Sie verschwinden zu dritt im Nebenraum.

Vor der Tür parken Felmbergs und Jüstens Dienstwagen. Ihre Bestimmung kann man am Kennzeichen ablesen: B-EV (evangelisch), und B-KB (Katholisches Büro). Auf dem Weg zum nächsten Termin erklärt Bernhard Felmberg im Fond des Wagens das Geschäft eines Interessenvertreters: mitkriegen, wann eine Idee heranreift, und die eigenen Vorstellungen möglichst schon dann einbringen, wenn die Idee noch nicht in Paragrafen gegossen ist. Etwa ein Dutzend Mitarbeiter unterstützen ihn und Jüsten dabei. Sie arbeiten mit den Referenten in den Ministerien und Abgeordnetenbüros zusammen, besuchen die Sitzungen der Bundestagsausschüsse, schreiben Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen. Die Themen reichen von ethischen Fragen am Anfang und Ende des Lebens über Sozial-, Familien-, Rentenpolitik bis hin zu Menschenrechtsfragen, Flüchtlingen, Entwicklungszusammenarbeit und zur Energiewende. Natürlich geht es auch um die Interessen der eigenen Institution, um Zahlungen des Staates an die Kirchen oder das kirchliche Arbeitsrecht. Die Kirchen sind nach dem Staat die größten Arbeitgeber.

Worum ging es bei Gröhe? Felmberg schüttelt den Kopf. Vertraulich. Nur so viel: Suizidbeihilfegesetz. Die Bundesjustizministerin will den gewerbsmäßigen Suizidhelfern das Handwerk legen. Die Kirchen wollen organisierte Suizidhilfe an sich verbieten, unabhängig von der Frage, ob Geld fließt. Die Meinungen gehen weit auseinander. Jetzt fragen sich die Kirchenvertreter: Gibt es Spielraum für das Anliegen der Kirchen? Wen könnte man noch überzeugen?

Über zwei Drittel der 622 Abgeordneten in dieser Legislaturperiode gehören der evangelischen und katholischen Kirche an, selten standen an der Spitze einer Regierung so viele bekennende Christen wie jetzt. Das hilft bei der Arbeit. Doch zu meinen, dass Christen automatisch die Positionen der Kirchen teilen – „die Zeiten sind vorbei“, sagt Felmberg, während der Wagen durch das verschneite Berlin fährt. Der Gegenwind von Laizisten ist größer geworden. Haltungen, die früher selbstverständlich waren, müssen die Kirchen heute erklären, zum Beispiel, warum sie am Ideal der Ehe festhalten, wenn selbst in konservativen Kreisen immer mehr Paare ohne Trauschein zusammenleben. „Je nach Thema müssen wir neue Koalitionen quer durch die Parteien suchen“, sagt Felmberg. Meistens ist er sich mit Jüsten einig, was sie erreichen wollen und wie sie vorgehen. „Wenn wir nicht mit einer Stimme sprechen, sind unsere Chancen sehr viel geringer“, sagt Felmberg.

Die letzte Sitzungswoche vor Weihnachten ist fast zu Ende. Noch ein Auftritt beim Deutschen Beamtenbund, dann können auch die Boten Gottes Pause machen. Der Dienstwagen hält in der Friedrichstraße. Menschen mit großen Einkaufstaschen hasten vorbei. Felmberg eilt die Treppen nach oben. Jüsten wartet schon. Wieder ein schmuckloser Sitzungssaal, vorne das Tischchen mit Kreuz. Von den Galeries Lafayette blinkt die Weihnachtsbeleuchtung herüber, sachte schweben Schneeflocken herab.

Vor drei Jahren sind in der Geschäftsstelle des Beamtenbundes plötzlich zwei junge Kollegen gestorben. Als Weihnachten nahte, wusste keiner, wie man angesichts der Todesfälle eine Weihnachtsfeier organisieren soll. Der Verbandschef kannte Jüsten und fragte um Rat. Jüsten schlug eine Andacht zu Beginn der Feier vor. Und weil vielen die Andacht gefiel, leiten Jüsten und Felmberg auch dieses Jahr wieder die Weihnachtsfeier ein.

Ein Quintett spielt Bach, der Verbandschef liest aus dem Lukasevangelium: „Der Herr stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Jüsten und Felmberg werben bei den Zuhörern dafür, Herz und Verstand offenzuhalten, offen für neue Erfahrungen, offen für Jesus Christus. Sich nicht aufzugeben, wenn ein naher Mensch stirbt. Gott hält, Gott trägt. Eine junge Frau wischt sich Tränen von den Wangen. Die anderen singen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit.“

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