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2009

© Martin Sigmund

Politik: Komm aus dem Staunen nicht heraus

100 Jahre Richard Strauss’ „Rosenkavalier“: früher Kult, heute Klassik. Die Geschichte meiner Lebensrolle / Von Brigitte Fassbaender

Und immer wieder dieses Ziehen in der Magengrube. Oder ist es die Herzgrube? Sind es Hirnströme? Es wird wohl alles zusammen sein. Die ersten Takte des „Rosenkavalier“-Walzers lösen dieses Gefühl regelmäßig in mir aus. Wellen von Sehnsucht und Weite nehmen mich mit, wenn das Terzett anhebt: „Hab mir’s gelobt . . .“ Anhebt ist das richtige Wort dafür, und wir, die wir’s anhören, heben ab: Ob auf der Bühne, unmittelbar beteiligt am musikdramatischen Geschehen, als Instrument, als Medium der musikalischen Materie, oder vor der Bühne als Zuschauer und -hörer, gebannt vom emotionalen Reichtum und Zauber dieser Musik und den zutiefst menschlichen Liebesverwirrungen, die die Seelen der Protagonisten in Aufruhr versetzen, eine ganze, lange Oper hindurch.

Eines der schönsten, komödiantischsten Werke des großen Richard Strauss geht mit dem Terzett seinem Ende entgegen, mit einer Musik, die einen weinen und lachen zugleich macht, so wohltuend schmerzlich ergreift sie den, der auf der Bühne das Glück hat, sie mitgestalten zu dürfen, oder den davor, der das Glück hat, zu lauschen – mit allen Sinnen.

„Die Gestalten waren da und agierten vor uns, noch ehe wir Namen für sie hatten: der Buffo, der Alte, die Junge, die Dame, der ‚Cherubin‘ ...“ – schreibt der Librettist Hugo von Hofmannsthal in seinem späteren Geleitwort zum „Rosenkavalier“ 1927, und damit ist zur Handlung fast alles gesagt. Die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg hat eine Affäre mit dem jungen Grafen Octavian, der sich wiederum in die hübsche Sophie verliebt, die ihrerseits dem Baron Ochs von Lerchenau versprochen ist: Irrungen und Intrigen nehmen ihren Lauf, und am Ende stehen sich ein gehörnter Ochs, eine melancholische Marschallin und ein junges Paar gegenüber, das nicht weiß, wie lange es beieinander bleiben wird. Das Ganze spielt in Wien zur Zeit Maria Theresias, und natürlich wäre die Wiener Hofoper der geeignete Ort der Uraufführung gewesen. Die dortige Sängerbesetzung aber missfiel Strauss, weshalb das Ereignis kurzerhand nach Dresden verlegt wurde. Dort (an der heutigen Semperoper) feierte die „Komödie für Musik“ am 26. Januar 1911 unter der musikalischen Leitung von Ernst von Schuch, in der Regie von Max Reinhardt und in den ikonografischen Bühnenbildern von Alfred Roller einen ersten vielsagenden Triumph.

Im „Rosenkavalier“, diesem Höhepunkt der Strauss-Hofmannsthalschen Zusammenarbeit, habe ich mich regelrecht emporgedient: Als Erstes ereilte mich die dritte adelige Waise; dann avancierte ich zur Annina, (als die ich sogar einmal im Hofknicks vor der Queen of England versank, als diese das Münchner Nationaltheater besuchte und in der Pause Hof hielt!); und danach, den Anfängerrollen langsam entwachsen, kam die Krönung: Der Octavian, der zur Paraderolle wurde, mit der ich mir über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg die Bühnen der Welt erobern durfte.

Der erste „Rosenkavalier“, an dem ich mitwirkte, war der des damaligen Münchner Staatsintendanten Rudolf Hartmann, der in Berlin und München viele Werke von Richard Strauss inszeniert hatte, in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Ein authentischer Sachwalter seines Amtes sozusagen. Am Pult stand Josef Keilberth, auch er ein großer, sensibler Strauss-Kenner, ein Dirigent, der die Orchesterfluten durchleuchtete und zum Singen brachte, voll Transparenz und dynamischer Feinheiten. In der Rückschau glaube ich, Keilberth und das Bayerische Staatsorchester waren nie zu laut, zumindest nicht bei Strauss. Und das ist schwer.

Als ich meinen ersten Octavian sang, in einer geschlossenen Vorstellung für die Freunde des Nationaltheaters, stand allerdings Meinhard von Zallinger am Pult, seines Zeichens Erster Bayerischer Staatskapellmeister, und er machte seinem Titel alle Ehre. Ein ausgezeichneter Dirigent, einer von den Stillen, Unaufwändigen, ein glänzender Handwerker und großer Musiker. Von kaum jemandem habe ich so viel gelernt wie von ihm, von seiner Disziplin, seiner Akribie, die nie kleinlich war, sondern immer der Musik diente; von seiner Noblesse und seiner Könnerschaft. Auch er kannte Strauss noch persönlich. Von Zallinger war ein berühmter, anerkannter Mozartdirigent, das kam seiner Strauss-Interpretation sehr zugute. Wie das auch bei Karl Böhm der Fall war, dem Freund und Vertrauten des Meisters aus Dresdner Tagen, der sich Strauss und Mozart gleichermaßen verpflichtet fühlte. Auch mit ihm hatte ich das Glück, beide Komponisten singen und „lernen“ zu dürfen.

Igor Strawinsky spricht von der „triumphierenden Banalität“ der Strauss’schen Musik, Stefan Zweig von ihrer „bürgerlichen Maske“. Mit beidem hat es seine Richtigkeit. Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist Strauss’ Bühne, die so lustvolle wie schmerzhafte Abkehr vom romantischen Zeitalter. Ein Komponist, dem an Mitteln restlos alles zu Gebote steht – und der doch weiß, dass die Zukunft in andere Richtungen marschiert. Richard Strauss wird 1864 in München geboren, als Sohn eines Hornisten und einer Erbin der bayerischen Bier- Dynastie Pschorr, er bereist die Welt und schreibt Musikgeschichte und sitzt doch am liebsten zu Hause in Garmisch und komponiert. Nach seinem expressionistisch wütenden Einakter „Elektra“ (1909), heißt es, habe er eine radikale Kehrtwendung vollzogen, hin zu einem bürgerlich-kulinarischen Kunstverständnis. Der „Rosenkavalier“ ist dessen erster, nicht unumstrittener Ausdruck. „Zuckerwasser dirigiere ich nicht!“, ätzte einst der große Otto Klemperer – und tat’s denn doch.

Die besagte geschlossene Vorstellung der Bayerischen Staatsoper fand 1967 statt, und ich war, obwohl der Abend vielversprechend gelang, dem „Rosenkavalier“ noch längst nicht gewachsen. Diesem Ausprobierer folgten noch viele Anninas, bis es 1973 endlich zu einer Neuinszenierung des Werkes kam, mit dem legendär gewordenen Team Carlos Kleiber, Otto Schenk, Jürgen Rose und uns, dem Protagonistenquartett Karl Ridderbusch, Gwyneth Jones, Lucia Popp, Brigitte Fassbaender. Von da an war ich in die Phalanx der besten Octaviane vorgestoßen und bereiste die ganze Welt mit dieser Rolle, die ich mir durch die Zusammenarbeit mit Kleiber und Schenk nachhaltig erschlossen hatte. Ein bisschen von „meinem“ Münchner Octavian nahm ich überall hin mit, ob es eine Produktion an der New Yorker Met war, in San Franzisco, London oder Paris …

Der Octavian ist nicht nur sängerisch eine reizvolle Herausforderung, sondern vor allem auch eine wunderbar vielseitige schauspielerische Aufgabe, die den ganzen Einsatz des Körpers, der Seele und des Geistes erfordert. Eine Rolle, die die Fantasie beflügelte und lange, lange Jahre unerschöpflich blieb. Immer gab es etwas Neues zu entdecken, in der Gestaltung zu vertiefen; auch die stimmliche Auseinandersetzung mit der Partie hörte nie auf. Immer gab es etwas auszuprobieren, neue Zwischentöne zu wecken, die Phrasierungen, die Riesenbögen des Strauss’schen Melos geschmeidig zu erarbeiten und in der Atemführung zu vervollkommnen. Solche Partien sind Glücksfälle – sie werden nie zur Routine, wollen immer wieder erobert sein, sie wollen, müssen und sollen in Fleisch und Blut übergehen. Das jedenfalls habe ich mit jeder Faser meines singenden Körpers erleben dürfen. Die Rolle und ihr Kostüm, die Szenerie waren mir zur Heimat geworden . Dass es ein „junger Herr aus großem Hause“ war, den ich darzustellen hatte, war die reizvolle Verwandlung, die der Darstellerin obliegt. Die Travestie Octavian/Mariandl (also die Rückverwandlung der Hosenrolle in eine Frau) erledigte ich mit Feuereifer und voller Hingabe. Der burschikos-elegante Quinquin, der in die Rolle des koketten Mariandl schlüpft, um den Baron Ochs von Lerchenau an der Nase herumzuführen, kirre zu machen und am Ende grandios zu düpieren, dieser kleine Opernheld Hofmannsthal-Strausscher Couleur schien mir wie auf den Leib geschrieben. Und auch seine Tessitura entsprach genau meinen stimmlichen Möglichkeiten.

Der Dresdner „Rosenkavalier“ schlug buchstäblich ein wie eine Bombe. In der Hofoper wurde ein eigenes Postamt eingerichtet, aus ganz Deutschland rollten Sonderzüge an die Elbe, Zigarettenmarken hießen plötzlich „Rosenkavalier“, und zu Karneval thronten Rosenkavaliere hoch zu Ross, gefolgt vom weinenden (!) Fußvolk Wagnerscher Bühnenfiguren. Auch die erste Verfilmung ließ nicht auf sich warten, 1926, kurz: Es war, als habe das junge 20. Jahrhundert sein Meisterstück gefunden. Ein dauerhafter Erfolg. Ob Herbert von Karajan 1960 in Salzburg, Otto Schenk und Carlos Kleiber 1973 in München, Herbert Wernicke 1995 in Salzburg, Peter Konwitschny und Ingo Metzmacher 2002 in Hamburg oder Stefan Herheim 2009 in Stuttgart: Die Liste legendärer Aufführungen ist lang – und der „Rosenkavalier“ offenbar unverwüstlich. Die Mesalliance macht’s: aus Mummenschanz und Sentimentalität, Kalkül und Esprit. Die Wahrheit existiert nicht mehr, sagt Strauss – und ist vielleicht doch moderner, als seine Gegner glauben.

Das Ergebnis all meiner Rosenkavalierischen Bemühungen war, dass das Publikum allüberall begann, mich mit dieser Rolle zu identifizieren. Weniger angenehm waren die Blüten, die die Verehrung im Publikum trieb. Die einen jungen Mann darstellende Sängerin, die auf der Bühne der Marschallin und der jungen Sophie in jugendlich überschwänglicher Liebesneigung verfallen ist und alle Höhen und Tiefen von Verliebtsein und Liebespein durchlebt: Damit identifizierten sich nicht wenige aus der Verehrerinnenschar, die sich wohl zu gern an die Stelle der Marschallin oder der kleinen Sophie versetzt gesehen hätten. Die Avancen, die Einladungen zum Essen, die Brieffluten, die ich abzuwehren, abzufangen und höflich abzulehnen hatte, waren lästig, komisch und rührend zugleich. Ein Zeichen dafür, wie sehr Traum und Wirklichkeit ineinandergriffen und in dieser Komödie für Musik selbst tatsächlich greifen. Strauss’ Musik, Hofmannsthals kongeniales Libretto und eine intensive Darstellung verklärten die Realität.

Der Verwechslung mit meiner Person begegnete ich mit jahrelanger Menschenscheu, mit Rückzug und Flucht in Abgeschirmtheit. Trotzdem gab es zahlreiche unliebsame Erlebnisse, die sich als groteske Begebenheiten in die Erinnerung eingeschrieben haben: Nächtliche Verfolgungsjagden, wenn ich nach der Vorstellung in meinem kleinen Sportwagen nach Hause fuhr, anonyme Briefe und Liebeserklärungen. Es gab eine Doppelgängerin, die meine Frisur, meine Kleidung, meinen Schmuck kopierte. Eine Selbstmorddrohung bei „Nichterhörung“ ließ sich nur durch Hilfe eines befreundeten Psychologen und durch Konfrontation lösen. Der androgyne Charme, der meinem Octavian nachgesagt wurde, wurde auf diese Weise zu einer Belastung, der ich mich ungewollt und ohne, dass ich es verhindern konnte, ausgesetzt sah.

Auch Berlin ist „Rosenkavalier“-Stadt. Die Staatsoper zeigt ihre erste Produktion bereits im Uraufführungsjahr, am 14.11.1911, Karl Muck dirigiert. Bis 1995 folgen sieben weitere Neuinszenierungen (allein drei in den Dreißigerjahren!). Das Charlottenburger Opernhaus zieht 1936 nach und verzeichnet bis heute fünf Produktionen, die aktuelle stammt von 1993 (Regie Götz Friedrich) und hat bislang 67 Vorstellungen erlebt. Das statistische Schlusslicht bildet die Komische Oper mit 31 Vorstellungen und einer einzigen Produktion: Erst 2006 hebt sich auch an der Behrenstraße der „Rosenkavalier“-Vorhang, Kirill Petrenko dirigiert, Andreas Homoki inszeniert, ein junges Sängerensemble brilliert.

Dann kam die Zeit des Abschieds von der Rolle. Der Auszug aus dem Schlafzimmer der Marschallin, der Abgang aus dem Faninalschen Palais, der letzte Besuch im Beisl, der letzte Schluck Wein aus der Karaffe, die die Requisite für die Tischszene mit dem Ochs bereitgestellt hatte: „Nein, nein, ich trink kein Wein …“ Der Abschied kam, als ich der Marschallin nicht mehr zuhörte, voll jugendlichem Unverstand, voll Ungläubigkeit und Unmut: Warum raubt sie uns die Zeit mit Gedanken über die Vergänglichkeit der Schönheit und allen Seins? „Manchmal steht sie auf, mitten in der Nacht, und lässt die Uhren alle steh’n?“ In der Nacht hat man Besseres zu tun! „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding, wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts?“ Ja, wie lebt man denn dahin? Und plötzlich hatte sie doch recht, und es kam der Punkt, an dem ich sie besser und besser verstand, die reife Frau, die kluge Marschallin, die alte Fürstin Resi. Das aber darf Octavian nicht, der junge Spund und Springinsfeld! Wenn das „innere Kostüm“ einer Rolle nicht mehr passt, wenn man der Marschallin näher kommt in Psyche und Physis, wird es Zeit Adieu zu sagen und das Feld der jüngeren Generation zu überlassen, die nachdrängt und nicht warten kann, bis ihr die Ehre widerfährt.

Treu geblieben bin ich ihm trotzdem, dem „Rosenkavalier“. Nachdem ich die Rolle in München zurückgelegt hatte, übernahm ich die Spielleitung der Wiederaufnahme mit einer völlig neuen Besetzung, überwiegend Rollendebütanten. Eine schwerwiegende, wichtige Erfahrung, denn damit war der Weg für mich in die Regie bereitet. Drei Mal habe ich es inszeniert, dieses Prachtwerk, wobei ich mich mit allen Rollen gleichermaßen auseinandersetzte und ihnen nahe kam. Das vierte Mal liegt vor mir. Unverlierbar, unsagbar bereichernd und verzaubernd ist der „Rosenkavalier“ in mir präsent. „Komm aus dem Staunen nicht heraus …“ Und so wird es bleiben: „In Zeit und Ewigkeit“. Den Walzer soll man spielen, wenn’s einmal so weit ist!

Die Autorin ist Sängerin und Regisseurin. Seit 1999 leitet sie das Tiroler Landestheater Innsbruck, seit 2009 das Richard- Strauss-Festival in Garmisch-Partenkirchen. Der Abdruck dieses Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Magazins „Bühne“.

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