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Politik: „Konservative debattieren am spannendsten“

Islamismusexperte über neuen Rat der Muslime

Vier Muslimverbände haben nun einen Koordinationsrat. Eine Sünde gegen die Vielfalt des Islam, heißt es – stimmt das?

Nein. Moscheen sind eben keine Kirchen mit unterschiedlichem Dogma und Ritual. Jeder kann in der Moschee des andern beten, während ein Katholik nicht ohne weiteres eine Gemeinde der Zeugen Jehovas besuchen dürfte. Wenn es zum Beispiel um islamischen Religionsunterricht geht, hätten die Verbände ein Korpus nicht kontroverser Themen, das völlig ausreichen würde. Sie brauchten keinen kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen: Was im Islam unstrittig ist, ist zugleich der Kern des Glaubens.

Ein weiterer Einwand ist: Hier schließen sich Stockkonservative zusammen, liberale Muslime haben keinen Platz.

Das ist die Verfassungsschutzperspektive, und es ist Quatsch. Alle muslimischen Verbände sind konservativ, also rechtgeleitet. Das ist unbestreitbar. Aber gerade im hiesigen rechtgeleiteten Islam finden derzeit die interessantesten Diskussionen und Denkexperimente statt.

Zum Beispiel?

Den revolutionärsten Lehrplan für muslimischen Religionsunterricht hat die Islamische Föderation Berlin, die Milli Görüs nahesteht, mit dem ZIF, dem Zentrum islamische Frauenforschung, entwickelt – ein Musterbeispiel moderner Pädagogik, die die Kinder abholt, wo sie stehen, mit sehr offenem Unterricht. Das ZIF hat sich übrigens auch mit der Übersetzungsgeschichte der berüchtigten Sure 4, Vers 34 auseinandergesetzt, die angeblich „leichtes Schlagen“ der Ehefrau erlaubt. Sie kommt zu dem Schluss, dass auch die Übersetzung „trennen“, „zieht aus“ oder „legt eine Distanz zwischen euch“ möglich ist.

Wo steckt also das islamisch-islamistisch Reaktionäre, das die Mehrheitsgesellschaft so fürchtet?

Jedenfalls nicht da, wo man es vermutet, in den Verbandszentralen. Die Konservativen sind eher in den Gemeinden vor Ort. Es ist ähnlich wie in den Kirchen: Die jungen Leute, denen ihre Gemeinden geistig zu anspruchslos sind, die debattieren und intellektuelle Anregung wollen, gehen auf die Kirchentage. Junge Muslime gehen in die Zentralen oder engagieren sich überregional, etwa in den Schuras. Dort finden dann die Auseinandersetzungen zwischen denjenigen statt, die eine Integrationspolitik befürworten und den Islam weiterentwickeln wollen, und denjenigen, die Änderungen eher skeptisch gegenüberstehen und die glauben, dass Integration nur unter Selbstaufgabe möglich ist. Hier handelt es sich um Weltanschauungskonflikte, deren Ausgang offen ist. Es ist aber nicht so, wie manchmal behauptet wird, dass die „Liberalen“ ein „Aushängeschild“ der Konservativen wären. Es handelt sich um Machtkämpfe, die zum Teil mit harten Bandagen ausgetragen werden. Wie anderswo auch.

Das Gespräch führte Andrea Dernbach

Werner Schiffauer lehrt Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Er hat in mehreren Feldstudien über islamischen Fundamentalismus geforscht.

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