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Politik: Lange nichts gemerkt

Die Grünen entdecken den Volksaufstand vom 17. Juni

Von Matthias Meisner

„Ich habe gar nichts empfunden.“ Wolf Biermann war gerade aus Hamburg in die DDR gezogen, als am 17. Juni 1953 Arbeiter in Berlin und 700 weiteren Städten und Gemeinden auf die Straße gingen. Er war 16 damals, landete erst mal im Internat in Gadebusch bei Schwerin, „einem Landbauernstädtchen“. Biermann richtete sein Bett ein, schaute sich nach den Mädchen um, Zeitung las er nicht. Der junge Wolf hat für die Unruhen nicht nur nichts empfunden. Nein, sogar: „Ich habe gar nichts gemerkt.“

50 Jahre später sitzt Wolf Biermann in Berlin auf einem Podium der Grünen und kann es immer noch nicht ganz fassen, eine Revolution quasi verschlafen zu haben. Die Partei hat eingeladen – wissend, dass ihr Umgang mit dem Ereignis 17. Juni kritisch hinterfragt gehört. Doch die geladenen Zeitzeugen haben sämtlich ein gespaltenes Verhältnis zu den Aufständen in der DDR gehabt. Marianne Birthler, damals fünf, erinnert sich noch gut, wie ihr eingetrichtert wurde, am 17. Juni sei nur ein „von Westsendern gesteuerter Mob“ auf der Straße gewesen: „Natürlich glaubten wir das nicht mehr. Aber wir hatten gar keinen Bock, uns den Faschismus-Vorwurf gefallen zu lassen.“ So hatten die DDR-Bürgerrechtler keinen Bezug zu den Protagonisten des 17. Juni, Birthler ist das bis heute „peinlich“. Und im Westen? Daniel Cohn-Bendit weiß heute: „Es war eine Revolution von unten gegen die Diktatur.“ Doch 1953, Cohn-Bendit war erst acht, hätten „die Intellektuellen versagt“.

Biermann kann seine „Dummheit“, den 17. Juni lange unterschätzt zu haben, bis heute nicht fassen. Noch 1976 bei seinem Konzert in Köln sprach er davon, dass es sich halb um einen Arbeiteraufstand, halb um einen faschistischen Putsch gehandelt habe. Die Grünen immerhin, Parteichef Reinhard Bütikofer räumt das ein, haben bis zur Einsicht noch länger gebraucht: Noch 1990 protestierten sie gegen „falschen Symbolgehalt“ und „nationalen Rummel“ um den 17. Juni.

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