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Politik: Leben lassen

Von Robert Birnbaum

Als der damalige Bundesinnenminister Otto Schily vor dem Bundesverfassungsgericht das Luftsicherheitsgesetz verteidigen sollte, hat er sich ganz klein gemacht: Das Gesetz sei für einen Fall gedacht, der sozusagen gar nicht eintreten könne. Die Bescheidenheit hat nichts genutzt. Das Gericht hat Schily auch noch unterm Teppich aufgespürt und dort kräftig vors Schienbein getreten. Das Urteil der Richter ist hart. Das Gesetz missachtet die unveräußerliche Menschenwürde. Der Staat hat kein Recht, unschuldige Passagiere und Besatzung eines entführten Flugzeugs für „todgeweiht“ zu erklären und daraufhin selbst zu töten. Dem Staat ist verboten, das Recht auf Leben der Mathematik zu unterwerfen und hundert Unschuldige zu opfern in der Hoffnung, vielleicht Tausende zu retten.

Ein klares Urteil. Oder doch nicht? Es erzeugt jedenfalls Probleme, wofür freilich die Karlsruher Richter nichts können. Bevor wir ein Luftsicherheitsgesetz hatten, war die Rechtslage unübersichtlich, Kampfpiloten und Politik bewegten sich in einer Grauzone. Nach diesem Urteil ist die Rechtslage übersichtlich – aber der Umgang mit ihr umso komplizierter.

Denn was genau hat das Gericht entschieden? Im Kern drei Dinge. Erstens: Der Staat darf sich nicht selbst ermächtigen, das Leben Unschuldiger zu opfern, für welchen guten Zweck auch immer. So weit, so klar. Das schließt aber nicht aus – die Richter weisen darauf ausdrücklich hin –, dass ein Kampfpilot im äußersten Notfall trotzdem ein entführtes Flugzeug abschießt und sein Minister ihn dazu auffordert. Beide tun das dann allerdings auf eigenes Risiko und müssen sich im Zweifel vor dem Strafgericht verantworten. Gut möglich, dass dieses Gericht das grausame Dilemma als übergesetzlichen Notstand anerkennt und den Mann am Abschussknopf wie den auf dem Kommandohügel freispricht. Der Punkt, den Karlsruhe gesetzt hat, ist ein anderer: Die Politik darf sich für solche Entscheidungen keine General-Absolution im Vorhinein geben. Das verbieten ein für alle Mal und unabänderlich die Grundrechte.

Anders sieht es aus beim dritten Punkt im Urteil. Das Gericht hat die Lizenz zum Abschuss zusätzlich deshalb verworfen, weil das Grundgesetz dem Einsatz im Inneren Grenzen setzt. Amtshilfe in Unglücks- und Katastrophenfällen ist erlaubt, aber nur, solange nicht „spezifisch militärische Waffen“ zum Einsatz kommen. Will sagen: Der Soldat darf Hilfskoch, Hilfssanitäter, Hilfspolizist sein, aber keinesfalls als Soldat tätig werden. Der Einsatz im Inneren muss nach heutiger Verfassungslage da enden, wo die Armee als Armee auftritt.

Das klingt einleuchtend. Die neu gezogene Grenze aber hat ihre Tücken. Eine absurde Folge hat das Gericht selbst aufgezeigt. Ein Flugzeug abzuschießen, in dem keine Unschuldigen sitzen, sondern Attentäter, ist nämlich kein Verstoß gegen die Menschenwürde. Nur: Die Polizei kann das nicht; die Bundeswehr kann es mit ihren Waffen, darf aber genau deshalb nicht. Das legt eine Verfassungsänderung nahe, die Kampfpiloten wenigstens für den Spezialfall Sicherheit gäbe.

Die Politik wird sich ohnehin noch ein paar Gedanken machen müssen, ob nicht die gleiche Logik, mit der uns die Bundeswehr inzwischen am Hindukusch gegen den diffusen Feind „Terrorismus“ verteidigt, auch ein anderes Verständnis von Verteidigung daheim erzwingt. Wir brauchen keine Soldaten zum Schutz von Fußballstadien. Zum Schutz gegen manche Sorten Attentäter zu Wasser, zu Luft und zu Lande aber vielleicht schon.

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