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Politik: Little Brothers

Von Caroline Fetscher

Ihr Wunsch sei, dass „Freedom and Democracy“ allen Erdenbewohnern zuteil werden, verkündeten George W. Bush und Tony Blair am Freitag in Washington. Sie sprechen von einer globaldemokratischen Utopie maximaler Partizipation, einer ganzen Welt als Debattierklub, in dem keiner mehr die Explosion einer Katjuscha-Rakete überschreien müsste: Waffen schweigen, Menschen reden. Dieser Entwurf ist das Gegenteil dessen, was die Freiheit und Kommunikation, Debatten und Zweifel verabscheuenden Fanatiker von Hamas, Hisbollah und Al Qaida oder das Mullahregime des Iran mit seiner pervertierten Version des Islam vor Augen haben. Deren Sehnsucht gilt Big-Brother-Systemen, in denen eine Ideologie volle Kontrolle ausübt.

Nun ist allerdings die Demokratie so attraktiv und ansteckend, dass sie sich, wie die Organisation Freedom House vorrechnet, stetig verbreitet. Und zu den Tricks der Geschichte gehört oft eine ironische Dialektik. Ohne dass es den Widersachern der Kommunikation ins Bewusstsein dringen darf, tragen nämlich sogar sie selbst bei zur wachsenden Partizipation. Wo? Im weltweiten Netz, genannt Internet. Auf elektronischen Websites, Weblogs und Foren „bloggen“ und „chatten“ Anhänger jeglicher Ideen und Ideologien; zur Stunde vor allem im Libanon und in Israel, dem Konflikt mit der größten Bloggerdichte jemals. Im grenzenlosen Raum des weltweiten Netzes begegnen einander die Ansichten von Millionen Individuen so intensiv und direkt wie nie zuvor. Auch die Gegner des Diskursiven und Individuellen blieben ohne das Mega-Diskursmedium Internet einflusslos.

Vor 119 Jahren veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Edward Bellamy seinen optimistischen Zukunftsroman „Looking Backward“, der im Jahr 2000 in Boston spielt. Auf seiner Zeitreise ins Morgen begegnet der Protagonist Julian West einem Staat sozialer Harmonie, ohne Gefängnisse, Kriege, Psychiatrien. Jedes Kind erhält die bestmögliche Bildung, die Individuen sind so frei, dass jeder unzensiert sein eigenes Buch veröffentlichen kann. Im August 1999, knapp ein Jahr vor Bellamys sagenhaftem Jahr 2000, bot die Firma Pyra Labs, heute im Besitz von Google, den ersten Gratisservice zum Blogging an. Wenig später umspannte diese technologische Revolution schon den Globus. Wer Zugang zum Internet hat, kann heute als Blogger „sein eigenes Buch“ veröffentlichen, als Autor eines Internet-Logbuchs, eines Weblogs.

Jetzt senden sie in Beirut oder Tel Aviv, Gaza, Kairo, Beijing oder New York ihre Texte aus Wohnküchen, Bunkern und Straßencafés. Ununterbrochen sprudeln die subjektiven Ätherquellen. Kein Big Brother kann so viel kontrollieren, nicht einmal Chinas Internetpolizei. Abertausende von Little Brothers und Little Sisters schicken einander Frontberichte und Friedensgedichte, Tagebuchtexte und Kommentare, jeder scheint jedem nah sein zu können, Distanzen wirken wie aufgehoben in dieser Illusion von Inklusion. Ja: Illusion. Denn noch bietet das weltweite Netz nur eine virtuelle Übung für eine künftige Weltdemokratie. Diese Subversion des Totalitären durch den Diskurs ist virtuell und daher nur ein Vorhof globaler Demokratie. Noch, und das ist die bittere Wirklichkeit neben dem Netz, muss ein Land wie Israel sich der Demokratiefeinde real und robust erwehren. Auf dem Boden, nicht im Äther.

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