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Schön oder zu schön? Wer unattraktiv ist, wird benachteiligt, wer zu schön ist, aber auch.

© dpa

Lookismus: Die Bevorzugung der Schönen

Wer nicht attraktiv ist, hat es schwer im Leben. Dieses Forschungsergebnis nennt sich „Lookismus“. Es ist die vielleicht meist unterschätzte aller Diskriminierungen. Ein Essay.

Ein Essay von Sebastian Leber

Wer attraktiv ist, erhält bei der Bank eher Kredit. Er kann vor Gericht auf ein milderes Urteil hoffen. Bekommt im Restaurant vom Kellner einen besseren Tisch zugewiesen. Wissenschaftler haben das nachgewiesen.

Wer attraktiv ist, hat es leichter im Studium. Hat Vorteile beim Bewerbungsgespräch, wird schneller befördert, bekommt mehr Lohn. Wird eher gehört, wenn er in einer Notfallsituation Fremde um Hilfe bittet. Auch Freundschaften lassen sich so leichter schließen. Wissenschaftler haben all das nachgewiesen, immer im Vergleich zu einem, der weniger attraktiv ist, sich ansonsten aber in nichts unterscheidet.

Es gibt mittlerweile hunderter solcher Studien, „Attraktivitätsforschung“ nennt sich die Disziplin. Bevorzugung der Schönen und also Benachteiligung der Übrigen ziehen sich durch praktisch alle Lebensbereiche, die Ungerechtigkeit lässt sich durchdeklinieren. Attraktive Politiker werden eher gewählt, Chefs sind bei ihren Untergebenen beliebter, Fußballer haben einen höheren Marktwert und erzielen bei Vereinswechseln höhere Ablösesummen.

Je mehr Studien auftauchen und je präziser die Effekte nachgewiesen werden, desto stärker verwundert es, dass sich niemand daran stört. Das Thema eignet sich maximal als Gesprächsstoff auf Partys, Kategorie Fun Fact. Oder zum flüchtigen Sich-Drüber-Aufregen. Beliebter Reflex: Ist eben so. Da kann man nichts machen außer akzeptieren. Das Leben ist nun mal ungerecht.

Wer diese Denkfaulheit kurz überwindet, wird zugeben, dass es sich hier um eine Form von Diskriminierung handelt. Und bei Diskriminierung war es noch nie eine gute Idee zu sagen: Ist halt so.

Wer sind die Betroffenen? Wer ist denn schön und wer nicht?

Im englischsprachigen Raum gibt es ein Wort dafür. Lookism. In Deutschland sagt man auch Lookismus. Och nee, nicht noch so ein Ismus! Haben wir nicht genug zu tun mit all den Minderheiten und sonstwie Benachteiligten, mit Transgender-Toiletten und politisch korrekten Anreden? Kann denn, wer es ständig allen recht machen muss und niemandem auf die Füße treten darf, sich am Ende überhaupt noch bewegen?

Attraktive Kellner bekommen mehr Trinkgeld, Professoren mehr Zuhörer, Chormusiker eher ein Solo. Lookism ist mehr als bloß eine weitere Form von Diskriminierung. Es handelt sich wahrscheinlich um die meist unterschätzte aller heutigen Diskriminierungen.
Es hakt ja schon beim Versuch, die Gruppe der Betroffenen einzugrenzen. Wer ist jetzt schön, und wer hässlich? Unter Attraktivitätsforschern dominierte lange die sogenannte Durchschnittshypothese, wonach als begehrenswert gilt, wer dem mathematischen Durchschnitt einer Bevölkerung entspricht. Anhänger der Theorie legen zum Beweis die Porträtfotos verschiedener Menschen digital übereinander, je mehr Bilder es werden, desto attraktiver erscheint das Einheitsgesicht. Kritiker sagen, das liege an Artefakten, also methodischen Fehlern. Je mehr Gesichter übereinander gehäuft werden, desto mehr Konturen gehen verloren. Das Gesicht wirkt ebenmäßiger, Hautunreinheiten verschwinden.

Daneben gibt es die Symmetriehypothese. Je ähnlicher sich beide Gesichtshälften sind, heißt es da, desto schöner der zugehörige Mensch. Auch gegen diese Theorie gibt es Bedenken, in Versuchsreihen schaffen es Probanden nicht einmal, symmetrische von weniger symmetrischen Gesichtern zu unterscheiden. Ein dritter Ansatz, die „sexhormone-markers theory“, behauptet grob gesagt: Ein Frauengesicht gilt als umso attraktiver, je femininer es wirkt. Ein Männergesicht wiederum gilt als umso attraktiver, je maskuliner es wirkt. Messkriterien sind etwa die Maße von Wangenknochen, Stirn, Augen, Nase. Zumindest für den Mann gilt die Theorie nur eingeschränkt. Extrem maskuline Typen wirken nicht extrem attraktiv.

Ebenso umstritten ist, ob Schönheit und ihre Wahrnehmung genetisch bedingt sind oder kulturell erlernt werden. Evolutionsbiologen auf der einen und Psychologen auf der anderen Seite haben gute Argumente für ihre jeweilige Sicht, und mal wieder lautet die wahrscheinlichste Antwort: Es ist eine Mischung aus beidem.

Die Benachteiligung kostet die Hässlichen viel Geld

Schön oder zu schön? Wer unattraktiv ist, wird benachteiligt, wer zu schön ist, aber auch.
Schön oder zu schön? Wer unattraktiv ist, wird benachteiligt, wer zu schön ist, aber auch.

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Die Diskriminierung beginnt gleich nach der Geburt. Mütter schenken schöneren Kindern mehr Aufmerksamkeit. Diese haben auch ein geringeres Risiko, in ihren ersten Lebensjahren misshandelt zu werden. Später folgen die besseren Schulnoten. Daniel Hamermesh, Wirtschaftswissenschaftler aus Texas, hat versucht, die unterschiedlichen Nachteile, die einem Erwachsenen im Laufe des Berufslebens durch Hässlichkeit entstehen, in Geld umzurechnen. Er kam auf durchschnittlich 300.000 Dollar.

Selten findet Lookism mit Absicht und Ansage statt (sieht man einmal von Menschenfeinden wie dem Modeunternehmer Mike Jeffries ab, der Hässliche bat, sie sollten keine Kleidung seiner damaligen Marke „Abercrombie&Fitch“ tragen). Nein, die Diskriminierung geschieht unbewusst – indem wir immer wieder demselben Fehlurteil erliegen: Wir setzen schön mit gut gleich. Nehmen also an, eine attraktive Person sei tendenziell gesünder, intelligenter, leistungsfähiger und fleißiger als eine weniger attraktive. Dazu freundlicher, vertrauenswürdiger, sozial kompetenter, emotional stabiler. Sozialpsychologen nennen das „Heiligenschein-Effekt“: unsere irrationale Neigung, von einer bekannten Eigenschaft eines anderen Menschen auf dessen unbekannte Eigenschaften zu schließen. Über den Umweg dieser Fehlannahme folgt dann die Bevorzugung: Für einen Fußballer, dem mehr Leistung und Fitness zugetraut wird, bezahlt ein Club logischerweise mehr Ablöse. Einem Fremden, der vertrauenswürdig scheint, kommt man eher zu Hilfe.

Auch Unattraktive haben Erfolg: Steve Buscemi, Gerad Depardieu, Mike Krüger

Müssen sich die Hässlichen halt anstrengen, damit sie nicht mehr zu den Hässlichen gehören, oder? Schick kleiden, Nase richten, Haare transplantieren, joggen gehen, Salat essen... Ein ähnlich beliebter Einwurf, um sich nicht ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen zu müssen, geht so: Auch Hässliche können es im Leben weit bringen, viele Prominente haben es haben doch vorgemacht. Dann werden meistens Gérard Depardieu, Steve Buscemi oder Marilyn Manson angeführt. Gebildeten fällt noch Jean-Paul Sartre ein. Alles Ablenkung. Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob Mike Krüger nun trotz oder wegen seiner Nase eine Showkarriere geglückt ist. Es bleibt ein Fakt, dass ein Mensch mit übergroßer Nase im normalen Leben durchaus Handicaps hat – dass er gegenüber Idealnasenträgern in Situationen benachteiligt wird, in denen die Beschaffenheit der Nase irrelevant sein sollte.

In den USA fanden Ökonomen heraus, dass bei börsennotierten Unternehmen der Aktienkurs steigt, wenn ein attraktiver Mann zum neuen Vorstandschef ernannt wird. Eine andere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass Teilnehmer des Online-Computerspiels „World of Warcraft“ von ihren Mitspielern schlechter behandelt werden, wenn die von ihnen selbst gestalteten, rein virtuellen Spielfiguren nicht attraktiv genug sind. Das Problem ist nicht nur ein moralisches. Wäre Lookism abgeschafft, würde das nicht bloß den Diskriminierten helfen. Es käme auch denen zugute, die heute, von Schönheit getäuscht, falsche Entscheidungen treffen: den weniger geeigneten Bewerber einstellen, den falschen Freund auswählen, demjenigen zuhören, der eigentlich weniger zu sagen hat. Warum also macht sich keiner daran, die omnipräsente, systematische Ungerechtigkeit abzuschaffen? Ganz klar: Weil Hässliche keine Lobby haben. Es gibt keine Interessensverbände, die sich für diese Diskriminierten einsetzen. Historisch gesehen sind solche Verbände immer aus den Reihen der Benachteiligten entstanden. So war es bei den Homosexuellen, den Menschen mit Behinderung, auch bei der Frauenbewegung. In den USA ging das Aufbegehren gegen die Rassentrennung von afroamerikanischen Gruppen aus, erst später übernahm das Gros der Bürgerrechtsbewegung die Forderungen. Rosa Parks hat sich nicht zufällig auf den freien Platz gesetzt. Sie war Mitglied einer afroamerikanischen Gruppe, die bereits seit 1905 für Gleichberechtigung kämpfte.

1963 gründete sich eine Gegenbewegung. Groß wurde die nie. Warum wohl nicht?

Schön oder zu schön? Wer unattraktiv ist, wird benachteiligt, wer zu schön ist, aber auch.
Schön oder zu schön? Wer unattraktiv ist, wird benachteiligt, wer zu schön ist, aber auch.

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Es wird kaum passieren, dass sich tausende wütende Hässliche zu einer Initiative zusammenfinden, gemeinsam auf die Straße gehen und Proteste planen. Man kann sich auch schwer vorstellen, wie die Hässlichen dieser Welt einmal im Jahr zu ihrer eigenen Pride Week aufrufen. Wer will schon von sich behaupten, er sei hässlich? Oder gar öffentlich an einem Sitzstreik teilnehmen und damit Fremden die eigene Hässlichkeit eingestehen? Menschen unternehmen doch umgekehrt meist viel, um ihre hässlichen Seiten gerade zu kaschieren.

Tatsächlich gab es einmal den Versuch, eine globale, identitätsstiftende Bewegung zu schaffen. Die „World Association of Ugly People“ wurde 1963 in der kleinen italienischen Gemeinde Piobbico ins Leben gerufen. Ihr Motto: „Ein Mensch ist das, was er ist, und nicht das, wonach er aussieht.“ Als Emblem wählten die Gründer einen Wildschweinkopf. Sie wollten über die gesellschaftlichen Benachteiligungen hässlicher Menschen aufklären, Vorurteile bekämpfen und Mitstreiter finden. Ihre Botschaft sollte über alle Kontinente gestreut werden. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist der räumliche Schwerpunkt der „World Association of Ugly People“ immer noch die kleine italienischen Gemeinde Piobbico. Die Idee hat einfach nicht gezündet. Größter sichtbarer Erfolg war das Aufstellen einer Statue in der Dorfmitte. Sie zeigt einen Mann, der in den Spiegel schaut.

In Deutschland werden Maßnahmen gegen Lookismus bloß in akademischen Kreisen und linksalternativen Kleinstzirkeln debattiert. Meist belässt man es dort mit der Feststellung, die gängigen Schönheitsideale seien schuld und gehörten zertrümmert. Klingt schön, aber auch schön unrealistisch.

Warum nicht das Grundgesetzt erweitern? Niemand darf wegen seines Aussehens diskriminiert werden

Wo also könnte ein pragmatisch denkender Mensch, der noch zu Lebzeiten Resultate sehen will, konkret ansetzen? Und wo aufhören? Gehörten dann, zu Ende gedacht, auch mal Normalo-Gesichter auf das Cover der „TV Spielfilm“? Drohen Zwangsquoten, wonach schöne Menschen alle paar Jahre mit Unattraktiven verkehren müssen? Braucht „Germany’s Next Topmodel“ neue Regeln? Es scheint, als müsste man eine ganz neue Welt erschaffen. Andererseits: Vor 50 Jahren hätte es sicher kein deutscher Rollstuhlfahrer für möglich gehalten, dass die Herstellung umfassender Barrierefreiheit einmal Ziel von Regierung und Bevölkerungsmehrheit sein würde. Man könnte viele kleine Schritte gehen. Sich zum Beispiel darauf einigen, dass Bewerbungen grundsätzlich ohne Passfoto einzureichen sind. Oder man könnte gleich den großen Schritt wagen. Im Grundgesetz heißt es in Artikel 3, Absatz 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ In die Aufzählung ließen sich prima das Wort „Aussehen“ einpflegen. Details könnte ein Bundesgesetz regeln. In den USA haben mehrere Staaten und Gemeinden ähnliche Gesetze erlassen. Das zunächst befürchtete Klagechaos blieb aus. Einmal angenommen, man bekäme das hin. Man würde, jetzt nur theoretisch, tatsächlich sicherstellen, dass kein Hässlicher je wieder diskriminiert wird. Wäre die Welt dann perfekt? Leider nicht ganz. Attraktivitätsforscher haben festgestellt, dass auch Menschen am anderen Ende der Attraktivitätsskala, also diejenigen, die extrem gut aussehen, diskriminiert werden. Bei Bewerbungsgesprächen droht ihnen Benachteiligung, sofern die Person, die über die Anstellung entscheidet, fürchten muss, später mit ihnen zu konkurrieren. Von Kollegen werden sie gemobbt. Extrem gut aussehende Frauen haben durchschnittlich weniger Partner, weil sich niemand traut, sie anzuflirten. Und im Straßenverkehr werden sie grundlos gegängelt. Einfach deshalb, weil manche Mitbürger glauben, die Super-Hübschen hätten genug andere Vorteile in ihrem Leben. Das müsse man ausgleichen.

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