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Politik: Lust auf Ordnung

Die Unterstützung für den Protest gegen die französische Rentenreform nimmt ab – die Gewalt auf der Straße wächst

Ein heiserer Premierminister, Krawalle vor der Pariser Zentrale der Regierungspartei UMP und ein verletzter Fotograf – zum Greifen ist die Spannung, die sich in diesen Tagen bei der Diskussion um die Rentenreform in Frankreich entlädt. Dutzende Demonstranten versuchten am Mittwoch, in die Zentrale der Regierungspartei von Premierminister Jean-Pierre Raffarin einzudringen. Am Vorabend war ein kubanischer Fotograf durch eine von einem Demonstranten geschleuderte Glasflasche am Kopf verletzt worden und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Die Eskalation bedeutet allerdings nicht, dass es für Raffarin schwieriger wird, seine Rentenreform überhaupt noch durchzubringen. Denn nach dem siebten Streiktag in Folge wird die Unterstützung der Massenproteste und Streiks in Frankreichs Bevölkerung immer geringer. Sogar die linksliberale Zeitung „Libération" warf den Gewerkschaften vor, es reiche nicht aus zu wissen, wie man einen Streik anzettelt. Man müsse auch wissen, wie und wann man die Aktionen beendet. Die Gerwerkschaften indes kündigten am Mittwoch an, die Streiks noch auszuweiten.

Denn eines steht fest: Die konservative Regierung unter Premier Raffarin wird in der Rentenfrage keinen Zentimeter von ihrem Konzept abweichen. Einen zweiten Herbst 1995 wird es nicht geben. Damals scheiterte die Rentenreform am Druck der Straße. Acht Jahre später geht es um dasselbe Thema: Vor allem die Beamten und die Angestellten im öffentlichen Dienst sowie in den staatlichen Betrieben – weit mehr als fünf Millionen und damit der höchste Prozentsatz in ganz Europa – wollen ihre Pfründe nicht aufgeben und sind nicht bereit, bis zu viereinhalb Jahre länger, also 40 Jahre lang, in die Rentenkassen einzuzahlen. Die Rentenreform sieht angesichts höherer Lebenserwartung und sinkender Beschäftigtenzahlen nun längere und vor allem einheitliche Einzahlungen in die Altersvorsorge vor, gleichzeitig sollen die Pensionen minimal und über einen Zeitraum von 20 Jahren gekürzt werden.

Als ein heiserer Raffarin am Dienstagabend vor 1500 Mitgliedern seiner Partei in Asnières bei Paris erklären wollte, warum an der Rentenreform kein Weg vorbeiführt, wurde ihm der Strom gekappt. Neuerdings mischen sich Anarchisten unter die friedlichen Demonstranten und sorgen für beträchtliche Zwischenfälle.

In Marseille, einer der Protest-Hochburgen, können die Bewohner nur noch mit Mundschutz durch die Straßen laufen, fauliger Geruch hängt in der sommerlichen Luft. Seit sechs Tagen werden die Abfalleimer nicht mehr geleert, manche Straßen sind wegen der Müllberge nicht passierbar. „Wir haben allmählich wirklich die Schnauze voll“, schimpfen immer mehr Franzosen und müssen sich dennoch auf weitere Streiks der Verkehrsbetriebe, Bahnen, Briefträger, Finanzämter, Energieversorger, Fluggesellschaften und Müllmänner einstellen.

Sabine Heimgärtner[Paris]

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