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Zehntausende Ägypter protestieren auf dem Tahrir-Platz gegen ihren Präsidenten Mursi.

© dpa

Machtkampf in Ägypten: "Seit wann entscheidet die Straße, ob ein Präsident zurücktreten muss?"

Seit dem Ultimatum der ägyptischen Armeeführung hält ganz Ägypten den Atem an. Mursi soll die Spaltung des Landes überwinden und den Willen der Ägypter achten. Doch Mursi weist Ultimatum des Militärs zurück. Seine Anhänger stehen hinter ihm. Ein Besuch im Lager der Muslimbruderschaft.

Seit vier Tagen ist hier Mursi-Land und alle verstehen die Welt nicht mehr. Tausende Islamisten haben sich in der kleinen Enklave rund um die Raba al-Adawiya Moschee in Nasr City eingeigelt. Die einen schlafen direkt auf dem Asphalt, andere mit Decken auf den Grünstreifen der beiden Boulevards, die sich genau vor dem Gotteshaus kreuzen. Endlose Reihen verlebter zehnstöckiger Wohnmaschinen pflastern das Viertel, der einzige Laden weit und breit ist eine schmale, schummerige Eisdiele, vor der sich jetzt den ganzen Tag die Demonstranten-Kunden drängeln. Quer über die Zufahrten stehen Eisenbarrieren, hinter denen reihenweise junge Männer als islamistische Bürgerwehr postiert sind. Sie sind gewappnet mit Bauhelmen, Eisenrohren und langen Bambusknüppeln. Backbleche zu Kampfschildern umgebaut liegen griffbereit am Boden. Viele lesen in Taschenkoranen.

„Seit wann entscheidet die Straße, ob ein Präsident zurücktreten muss. Ist das Demokratie? Wir haben eine Verfassung, die regelt den Machtwechsel“, schimpft Mustafa Badrin, der auf einem prallen Jutesack gefüllt mit getrockneten Datteln lehnt. Der 54-jährige ist Agraringenieur, gehört seit dreißig Jahren zur Muslimbruderschaft, hat alles miterlebt von Gefängnis, Geldstrafen bis zu Berufsschikanen und Geheimdienstverhören. Seine kleine Käsefabrik wurde unter Hosni Mubaraks Regime beschlagnahmt. Neben sich auf dem Boden hat er die Zeitung der salafistischen „Partei für Freiheit und Entwicklung“ liegen, die aus der einstigen Terrorgruppe Gamaa Islamiya hervorgegangen ist. 1997 verübte Gamaa Islamiya das bisher größte Massaker an Touristen in Ägypten, bei dem in Luxor 58 Ausländer und vier Ägypter ermordet wurden. Frankreichs Präsident Francois Hollande habe die schlechtesten Zustimmungsraten aller Zeiten, argumentiert Mustafa Badrin weiter unter beifälligem Nicken der Umstehenden. Niemand aber käme in Paris auf die Idee, nach Neuwahlen zu rufen.

Seit dem Ultimatum der ägyptischen Armeeführung, das am Mittwoch um 17 Uhr ausläuft, hält ganz Ägypten den Atem an. Und bereits nach Ablauf der ersten Hälfte der brisanten 48 Stunden ist klar, das verbale Muskelspiel der Generäle wird die beiden verfeindeten Lager nicht so bald zur Vernunft bringen. Vielmehr wechselt die politische Stimmung in der Stadt so schnell wie das Wolkenbild am Kairoer Himmel. Kaum hatte der Militärsprecher am Montagnachmittag seine Vier-Absätze-Kommunique im Staatsfernsehen verlesen, verwandelte sich der Tahrir-Platz in ein Jubelmeer. Die Rebellen der „Tamarod“-Bewegung sahen den Sieg über den verhassten Präsidenten schon zum Greifen nahe. Um fünf Uhr in der früh kam dann die eiserne Retourkutsche aus dem Koba-Palast, wo sich der Staatschef unter dem Schutz der Republikanischen Garden momentan aufhält. Der Präsident werde sich dem Ultimatum nicht beugen. Die Erklärung der Armee sei nicht mit ihm abgesprochen und er beharre auf seinem eigenen Weg, die Krise zu lösen. Gleichzeitig begannen die Muslimbrüder, ihre Anhänger aus dem ganzen Land zusammenzutrommeln. Wir brauchen nur mit den Fingern zu schnippen und haben Millionen auf den Beinen, sagt ein junger Lehrer, der eigens aus Saudi-Arabien nach Ägypten zurückgekommen ist, um „ganz vorne mit dabei zu sein“. Provoziert hat Muris Anhänger vor allem der eine Satz von Oberbefehlshaber General Abdel Fattah al-Sissi, die Massenproteste am Sonntag seien ein „beispielloser Ausdruck des Volkswillens“ gewesen. Nun wollen sie mit eigenen Millionenmärschen dagegen halten – nicht nur rund um die Raba al-Adawiya Moschee, auch auf dem Ennahda-Platz vor der Kairoer Universität, der kaum eine halbe Stunde Fußweg vom Tahrir entfernt ist. Aber auch die politische Opposition ruderte am Dienstag zurück. Man wolle auf keinen Fall einen Militärputsch, ließ ihr Bündnis, die so genannte „Nationale Rettungsfront“, verkünden. Den Rücktritt Mursis zu fordern aber sei kein Verstoß gegen demokratische Prinzipien. Und so wollen sie nun dem Aufmarsch der Islamisten eine eigene Menschenkette entgegensetzen, die vom Tahrir-Platz bis zum zehn Kilometer entfernten Itthadyya-Präsidentenpalais reicht, wo Mursi normalerweise residiert.

„Kampf der Plätze“ titelten dann auch die ägyptischen Zeitungen. Nur zu Zeiten der Revolution gegen Hosni Mubarak war der Autoverkehr in der Hauptstadt am Nil so dünn und flüssig. Hunderttausende Menschen haben Kairo wegen der Hitze und der drohenden Gewalt verlassen, sind zu Verwandten aufs Land oder in ihre Ferienhäuser an der Mittelmeerküste gefahren. In einer Woche beginnt der Ramadan. Und schon jetzt sind viele Geschäfte nur noch morgens einige Stunden offen, bevor ihre Besitzer alles wieder fest verrammeln. Die Mursi-Enklave dagegen kennt keinen Ladenschluss. Zu essen gibt es Fladenbrot mit Weißkäse und schwarzen Tee. Wer etwas mehr Geld hat, kann sich bei einem der fliegenden Händler einen Orangensaft pressen lassen. Von Eselskarren herunter werden Mangos, Äpfel, Bananen und Melonen verkauft – zum Glück hat Ägypten im Juli nicht nur sengende Sonne zu bieten, sondern auch eine Früchtepracht wie aus dem Paradies. Andere legen fromme Utensilien aus, so in kleinen Plastiktüten verpackte Zweiglein des Arak-Baumes, die Zahnbürste für alle Salafisten, die es bei der Mundpflege ihrem Propheten Mohammed gleichtun möchten.

„Es wird wesentlich mehr Gewalt geben als bei der Revolution gegen Hosni Mubarak“, davon ist Hesham Ibrahim überzeugt. Er ist Laser-Chirurg und weiß, wovon er spricht. Vor zweieinhalb Jahren war er Chefarzt sämtlicher Notlazarette auf dem Tahrir-Platz. 100 Ärzte arbeiteten damals rund um die Uhr unter der Regie des 54-Jährigen, der seit seiner Studienzeit der Muslimbruderschaft angehört. Heute organisiert er das Feldlazarett der Islamisten neben der Raba al-Adawiya Moschee. Noch sind alle acht Krankenliegen in den von braunen Holzwänden abgetrennten Buchten leer, jede halboffene Kammer ist genau beschriftet - Innere Medizin, Augen, Orthopädie. Große Vorräte an Medikamenten und Verbandszeug liegen säuberlich sortiert neben dem Eingang auf einem großen Tisch. Seit vier Tagen ist Hesham Ibrahim hier. „Wir sind auf alles gerüstet von Armbrüchen, Schusswunden bis zu Augenverletzungen“, sagt er. Für die Zukunft Ägyptens aber findet er nur noch apokalyptische Worte. „Wir befinden uns im Endkampf zwischen dem islamistischen und nicht-islamistischen Lager.“ Und einer seiner Mitärzte fügt hinzu: „Wir rechnen mit dem Schlimmsten, wie in einem Krieg.“

Von solchen Unheilsprophetien will Ahmed Ali nichts wissen. Der Psychiater aus der Suez-Stadt Ismailia sitzt draußen auf einem Bordstein und hat seinen Motoradhelm zwischen den Beinen. „Ich habe diesen Präsidenten gewählt und bin hier, um meine Stimme zu verteidigen“, sagt er. Einen Staatschef, mit dem alle einverstanden sind, das gibt es einfach nicht. Auch habe Mursi kein intaktes Land übernommen, sondern ein korruptes, zerfressenes Regime. 60 Jahre Misswirtschaft aber ließen sich nun mal nicht in einem Jahr ausbügeln. „Man kann nicht gleichzeitig säen und ernten“, sagt der 33-Jährige, während von einem der Eingänge „Allah ist groß“ Rufe herüberschallen. „Wir müssen viel geduldiger sein und viel härter arbeiten, nur dann kommt Ägypten wieder auf die Beine.“

Doch danach sieht es vorerst nicht aus. Mursis Kabinett ist praktisch zerfallen, seine Minister und Berater suchen in Scharen das Weite, am Dienstag kündigte auch der Präsidentensprecher. Man unterschätze nicht das Ausmaß der Proteste, hatte dieser noch bei seinem letzten Auftritt zähneknirschend erklärt. Der Präsident aber werde nicht zurücktreten. Seine treuen Anhänger im kleinen Mursi-Kosmos in Nasr City dagegen reden sich derweil den historischen Volksprotest vom letzten Sonntag klein. Niemand hier hat einen Fernseher im Zelt, auf dem die Bilder der schier endlosen Menschenmengen zu sehen waren. Stattdessen werden sie über Megalautsprecher stundenlang von islamistischen Rednern und Predigern beschallt.

Die Medien übertreiben die Zahlen maßlos, die Leute auf dem Tahrir-Platz sind gekauft oder frustrierte Anhänger des Mubarak-Regimes, Schlägermobs oder Feinde des Islam, lauten darum ihre Erklärungen. Zudem habe die Opposition keinerlei Vision für die Zukunft. „Hau ab Mursi, das ist das einzige, wo sie sich einig sind“, sagt Mohamed Sayyed, von Beruf Lehrer, der mit einer Kappe der Chicago Bulls herumläuft. „Und wer ist eigentlich Mohammed ElBaradei, dass er sich aufspielt als das Sprachrohr des ägyptischen Volkes?“ Mursi sei mit Mehrheit zum Präsidenten gewählt, Baradei gar nicht erst angetreten, sagt er, während skandierend und knüppelschwingend ein kleiner Protestzug hinter ihm vorbei paradiert. „Wenn ihr uns töten wollt, wir sind bereit zu sterben“, schreien die Männer zum Gewummer ihrer Trommeln. „Der größte Fehler von Mursi - er war zu weich und zu nachgiebig mit dem alten Mubarak-Gesindel“, fährt Mohamed Sayyed fort, als man sein Wort wieder verstehen kann. Nein, zum Tahrir-Platz gehe er nicht. „Wie kann ich dort unter diesen Mubarak-Fans stehen, die während der Revolution meine Brüder getötet haben?“ Und nach einer kurzen Atempause fügt er hinzu: „Wir müssen endlich alle diese Plätze säubern.“

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