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Melissa Fleming Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks, beim Interview in Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Melissa Fleming, Sprecherin der UN-Flüchtlingshilfe: "Teilung der Lasten funktioniert weltweit nicht"

Melissa Fleming, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks, sieht Deutschland in der Flüchtlingskrise allein gelassen. Aber nicht in einer verzweifelten Situation: Die Flüchtlinge seien eine Chance.

Frau Fleming, Sie haben Ihren Berufsweg in Bayern begonnen…

Ja, ich habe fünf Jahre in München gelebt.

Bayern ist aktuell der Flaschenhals für den Zug der Flüchtlinge, das Tor nach Deutschland. Haben Sie Verständnis für die Sorgen dort?

Ja, dafür habe ich Verständnis. Man muss Menschen zuhören, die Angst haben, sich Sorgen machen, sonst ist diese Krise nicht zu managen. Und natürlich stimmt es auch, dass Deutschland allein ein Problem nicht lösen kann, das ein europäisches ist. Nicht ganz allein natürlich, auch Österreich, Schweden, zum Teil die Niederlande sind dabei. Die andern europäischen Länder überlassen das leider diesen wenigen.

Sind die Flüchtlinge denn ein europäisches Problem? Was sagen Sie Leuten, die meinen: Was geht uns Syrien an?

Das wäre das Ende der Welt, wenn man so argumentieren wollte. Flüchtlinge sind ein Problem aller. Unser internationales Schutzsystem ist übrigens in Deutschland entstanden, nach dem Zweiten Weltkrieg, als Reaktion auf die NS-Herrschaft und die nach dem Krieg entstandene Flüchtlingsbewegung. Und Deutschland ist es jetzt, das die moralische Führungskraft zeigt, dieses System aufrechtzuerhalten. Wir wussten längst, dass die fehlende gemeinsame europäische Asylpolitik ein Problem ist, wir kannten die mangelhafte Infrastruktur vieler Länder. Aber wir ahnten nicht, wie dramatisch sich das auswirken würde. Das hat erst die jetzige Krise gezeigt.

Sie sagen richtig: Das System ist inzwischen 70 Jahre alt ist. Viele in Deutschland fragen sich, ob es noch trägt, um Massenflucht zu managen.

Es ist weiter tragfähig, wenn es angewandt wird. Es braucht Burden sharing, Lastenteilung. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass die Flüchtlingszahlen in Europa zwar hoch sind, aber auch zu bewältigen.  Wer Schutz braucht, hat das Recht, Schutz zu suchen. Das ist nicht illegal. Und Deutschland, Europa, die ganze Welt steht da in der Verantwortung. Leider funktioniert diese Lastenteilung auch nicht  über Europa hinaus. Die Hilfe für die Länder der Erde, die 86 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen, ist viel zu gering. Es war deshalb vorauszusehen, dass Menschen, die in Ländern gelandet sind, deren Einwohner selbst bestenfalls das Existenzminimum haben, eines Tages versuchen würden, weiterzuwandern.

Unter den Gründen, die Menschen nach Deutschland bringen, nannten sie kürzlich auch, dass sie Nachrichten sehen und gut informiert sind, über die neuen Medien vor allem. In Deutschland wie Europa wird der Bundeskanzlerin genau dies vorgeworfen. Sie habe diese Nachrichten produziert. Hätte es also nie Selfies mit Flüchtlingen geben dürfen und die Ansage: Wir holen jetzt Leute aus Ungarn heraus?

Die Menschen sind in der Tat gut vernetzt, vor Deutschland hat das Schweden erlebt, das allen syrischen Flüchtlingen, die es dorthin schafften, Asyl auf Dauer anbot. Das hat sich natürlich herumgesprochen. Wenn Menschen wissen, dass sie nirgendwo willkommen sind, gehen sie an die wenigen Orte, wo sie sich eher willkommen fühlen.

Also müssen wir nur andere Bilder produzieren und die Flüchtlinge kommen nicht mehr?

Es ist sicher an der Zeit, die Realität zu zeigen. Wenn Deutschland jetzt praktisch allein steht als Aufnahmeland, wird es Enttäuschung produzieren. Aber noch einmal: Das Verteilungssystem muss funktionieren, dann lässt sich auch anderes kommunizieren.

Was meinen Sie?

Wir hatten kürzlich den Fall, dass Luxemburg bereit war, Flüchtlinge aufzunehmen. Doch das wollten die auf keinen Fall, alle wollten nach Deutschland. Sie waren einfach schlecht informiert. Während sie bei Ihnen in Deutschland monatelang auf ein Verfahren hätten warten müssen, wären sie in Luxemburg praktisch sofort aufgenommen, verteilt und bald integriert worden.

Ein anderer Fall sind die Hilfen für die Nachbarn der Herkunftsländer. Sie haben im September Alarm geschlagen: Nicht einmal die paar Milliarden Dollar für die Versorgung von Flüchtlingslagern, um die Sie jedes Jahr bitten, sind vollständig eingegangen.  

Ja, wir bitten Jahr für Jahr um ein Minimum und jedes Jahr endet damit, dass wir gerade die Hälfte des Minimums bekommen.

Ist denn überhaupt vorstellbar, dass man in den Nachbarländern Verhältnisse schafft, die die Flüchtlinge auf Dauer in der Nähe ihrer Heimat halten, also in Libanon, der Türkei, Jordanien?

Ja, das ist vorstellbar. Je länger zum Beispiel der Krieg in Syrien dauert, desto weniger Ersparnisse haben die Flüchtlinge, und sehr oft dürfen sie dort, wo sie angekommen sind, nicht arbeiten. Das heißt, sie sehen keine anderen Möglichkeiten mehr als die, weiterzuwandern. Ich habe mit vielen gesprochen: Nicht arbeiten können ist ein Riesenthema, aber auch Bildung für ihre Kinder, die Schulen. Etliche sagten mir, sie würden auf vieles verzichten, aber sie wollen, dass ihre Kinder eine Zukunft haben. Ich finde es unglaublich kurzsichtig von der internationalen Gemeinschaft, da nicht zu investieren – auch als Teil der Sicherheitspolitik: Selbst wenn ihnen das Leben dieser Menschen völlig egal wäre, müsste die Welt ein Interesse daran haben, sie beim Lernen, Arbeiten, der Vorbereitung auf die Zeit nach dem Krieg zu unterstützen. Wenn man das nicht tut, bekommt man statt Aufbauhelfern für Demokratie und Frieden eine ungebildete und frustrierte Bevölkerung.

Sie sprachen an, dass viele der aufnehmenden Erstaufnahmeländer selbst bitterarm sind. Kann man da nur den Flüchtlingen helfen, verursacht das nicht weitere Probleme?

Man muss sich unbedingt auch um die Länder selbst kümmern. Sie sind völlig frustriert. Sie tun so viel und bekommen so wenig zurück. Entwicklungshilfe muss sich gerade an sie richten. Das Budget von Unhcr hat einen Teil, der sich „Resilience“-Programm nennt und genau den Ländern gilt, die Flüchtlinge aufnehmen. Wir fördern davon Win-win-Projekte, die sowohl der einheimischen Bevölkerung helfen als auch den Flüchtlingen. So wird die Hilfe für Flüchtlinge zu etwas, was im eigenen Interesse liegt.

Hält das alle Flüchtlinge in der Herkunftsregion?

Nicht alle, aber die Masse wird bleiben. Die wenigsten wollen weg, die meisten wollen die Grenze ihres Landes sehen können. Und sie haben ja auch Beziehungen in die Nachbarschaft aus besseren Zeiten, als sie in Beirut oder an der türkischen Riviera in Urlaub waren. Was sie gerade wegtreibt, ist eine Welle der Verzweiflung. Viele Syrer kommen jetzt auch direkt nach Europa. Vor einem Jahr hätten sie noch Asyl in der Nachbarschaft gesucht, jetzt haben sie einfach keine andere Wahl mehr.  In den Libanon kommt man aktuell nur noch, wenn man ein Ticket nach woanders vorweisen kann. Auch Jordanien, das mehr als 600.000 Syrer aufgenommen hat, ist nicht mehr zugänglich wie bisher.

Und wenn Europa einfach auch die Grenzen dicht machen würde?

Das ist keine Lösung, sondern würde das Problem woanders hin verschieben. Außerdem gibt Europas seine völkerrechtliche Verantwortung auch nicht auf, wenn es Grenzen ausbaut. Auch Stacheldraht wird Leute nicht abhalten, die völlig verzweifelt sind. Grenzen schließen, das wäre menschenunwürdig…

Aber praktisch möglich?

Nein, das auch nicht. Fast jede europäische Landgrenze ist bereits  verschlossen. Der einzige Weg nach Europa ist noch das Meer und die Ägäis. Wollen Sie das Mittelmeer abriegeln?

Was wäre die Lösung?

Die legalen Wege nach Europa öffnen, die ungefährlichen.

Damit noch mehr kommen? Das wird politisch kaum durchsetzbar sein.

Die Frage ist doch ganz offensichtlich nicht, wie man die Leute aufhält – das funktioniert nicht – sondern wie man ihr Kommen gut managt. Die Einrichtung von Hotspots hat Unhcr vor Monaten schon unterstützt, es war lange klar, dass Griechenland die Registrierung nicht schaffen würde. Wir wollen solche Zentren auch in Italien – ursprünglich auch in Ungarn. Die Leute müssen dort Unterschlupf finden, sie müssen dort schlafen und essen können und registriert werden. Die, die Schutz brauchen, werden dann verteilt. Die keinen brauchen, müssen zurück. Nur so kann das System funktionieren. Derzeit wissen sie nur eins: Ich muss unbedingt nach Deutschland. So kann das nicht weitergehen.

Zurück müsste wer?

Vom Balkan kommen nicht nur Flüchtlinge. Auch von denen, die in Italien landen, sind etwa die Hälfte Flüchtlinge, die andere sind Arbeitsmigranten. Nach den Kriterien und Regeln für Asyl sind aber die meisten, die kommen, Flüchtlinge, vor allem über Griechenland,

Jenseits der Hotspots – wie soll es besser weitergehen?

Es braucht legale Wege nach Europa. Dass die Menschen sich Schleppern anvertrauen, dass es die überhaupt gibt, ist Schuld des aktuellen Systems. Andere Möglichkeiten des Zugangs zu Asyl und Aufenthaltsrecht gibt es ja nicht. Wir brauchen mehr Resettlement…

Das heißt?

Bei Ihnen in Deutschland heißt das humanitäre Aufnahme und bedeutet, dass Plätze in einem Land zugesagt werden und mit Hilfe des UNHCR in den Flüchtlingslagern Menschen ausgesucht werden, die besonders dringend Schutz benötigen, weil sie besonders verletzlich sind: Folter- und Vergewaltigungsopfer, Kranke, die da wo sie sind, nicht behandelt werden können. Das trifft nach unserer Kenntnis auf etwa zehn 10 Prozent der vier Millionen syrischer Flüchtlinge zu, die es ins Ausland geschafft haben. Mehr Plätze für diese Gruppe wären eine große Hilfe. Aber nicht die einzige: Flüchtlinge müssten, auch in andern Ländern, zu Familienangehörigen ausreisen dürfen, die sie aufnehmen wollen. Studierenden, die praktisch aus dem Hörsaal fliehen mussten, könnte man mit Studentenvisa helfen. Es gäbe so viele Möglichkeiten!

Drohen neue Fluchtwellen, anderswo in der Welt? Kriege sind ja nicht der einzige Grund, Menschen fliehen inzwischen auch vor Umweltkatastrophen oder weil schwache Staaten sie nicht vor Gewalt schützen können.

Die meisten Bewegungen erreichen die Erste Welt überhaupt nicht. Die aus der Zentralafrikanischen Republik zum Beispiel oder die, die vor Boko Haram in Nordnigeria fliehen. Wir bei Unhcr stellen uns auf mehr Flüchtlinge ein. Die Lage in Syrien, in Irak und Afghanistan könnte schlimmer werden – in Syrien zum Beispiel durch die neuen Militärschläge verschiedener Akteure. Das treibt Tausende in die Flucht, ohne dass wir sagen könnten, wie viele es nach draußen schaffen. In Afghanistan haben viele die Hoffnung auf ein Ende der Gewalt verloren, sie verlassen jetzt das Land. 

Ein Blick auf die Europäer, auf die Deutschen selbst. Sie haben Deutschland in den ersten Nachwendejahren erlebt, als sich viele nach Westen aufmachten. Was denkt die heutige UNHCR-Sprecherin, wenn gerade in Sachsen die größten Kundgebungen gegen Flüchtlinge stattfinden?

Etwas seltsam ist das schon, wenn man weiß, dass es Teile des Landes gibt, die vor 25 Jahren stark entleert wurden und den Zuzug von Flüchtlingen gut gebrauchen könnten. Ich habe aber gerade ein Interview mit Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow  gelesen, das ich zukunftsweisend fand: Er sagte, er hoffe, dass Flüchtlinge in Thüringen bleiben möchten und dass sie auch ihre Familien nachholen. Tatsächlich sagen alle unsere Daten: Wer am Anfang richtig in Flüchtlinge investiert, bekommt viel mehr zurück als diese Anfangskosten. Der "Economist", ..

...das Weltleitmedium für Wirtschaftsberichtestattung,

...hat gerade ausgerechnet, dass die Flüchtlinge für Deutschland ein Riesenwachstumsprogramm sind.

Aber viele haben Angst davor, wie sie das Land verändern werden. 800 000 sollen in diesem Jahr kommen – das wäre ein Prozent der Einwohner Deutschlands.

Ich würde ihnen vor Augen führen, wie gut Einwanderungsländer damit leben. Kanadas Gesellschaft zum Beispiel ist reich und multikulturell, sie wurde durch Flüchtlinge gemachtt. Ich habe in Toronto noch niemanden getroffen, der sich eine rein weiße Gesellschaft zurückwünschte.

Es gibt auch die Sorge, der europäische und deutsche Sozialstaat werde unter den vielen Neuen zusammenbrechen – den gibt es so in vielen traditionellen Einwanderungsländern nicht.

Ich habe sehr viel Sympathie für das deutsche und europäische Sozialsystem und verteidige es gern, wenn meine konservativeren amerikanischen Familienmitglieder sich darüber entsetzen. Ich meine: Flüchtlinge brauchen am Anfang die Hilfe dieses Sozialstaats, Programme, damit sie die Sprache lernen, Arbeit finden, sich möglicherweise nachqualifizieren. Außerdem sind viele traumatisiert. Aber sie sind auch hochmotiviert, und sie haben ein Riesenspektrum von Bildung und Berufserfahrung. Es lohnt sich, auf sie zuzugehen. Nach allem, was ich lese, ist Deutschland ein schrumpfendes Land. Die Flüchtlinge sind eine Chance.

Sie arbeiten in der Schweiz, pendeln nach Österreich, kennen Deutschland gut. Wird diese Chance dort gesehen?

Ich war sehr angenehm überrascht, wie die Zivilgesellschaft hier reagiert. Ich bin in Österreich an den Bahnhof gegangen, auch dort habe ich so viel Hilfsbereitschaft gesehen. Man denkt ja immer, die Leute verlassen sich auf den Staat, aber viele, mit denen ich sprach, sagten ganz klar, sie sähen das auch als ihre ganz persönliche Sache, sie wollten die Menschen kennenlernen, die da kommen, und herausfinden, was sie für sie tun können. Diese Haltung wird vieles ändern, glaube ich. Wer Kontakte knüpft, entdeckt auch Ähnlichkeiten, es kommen schließlich Menschen so vieler Religionen und politischer Überzeugungen, viele sehr säkulare Menschen, mit Berufen wie es sie auch hier gibt. Wer sich auf den direkten Kontakt einlässt, kann nicht mehr "Ausländer raus!" schreien.

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