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Politik: Mensch sein am Sonntag

Von Moritz Schuller

Otium nannten es die Römer, Muße. Die ist den Deutschen, die sich längst im dekadenten Lebensstil der spätrömischen Aristokratie eingerichtet haben, nun per Gerichtsurteil bis auf weiteres zugesichert worden: Am Sonntag bleiben die Geschäfte geschlossen. Das Abendland ist gerettet, dürfen wir erleichtert feststellen, bevor wir wieder den Rilke zur Hand nehmen. Sonntags müssen wir Gott sei Dank nicht in den Auslagen wühlen.

Muße im römischen Sinne, bei der Myriaden von Sklaven der Gesellschaft den Rücken freihalten, ist heute vielleicht noch in einem Ölstaat möglich. Deutschland, das sagen uns die Experten, ist schon lange kein Ölstaat mehr. Der Slogan der Gewerkschaften, „Samstags gehört Vati mir“, galt früher, vor der demografischen Zeitenwende.

Heute, da das Rentenalter vermutlich bald bei 70 Jahren liegen wird, dürfen die Kinder froh sein, wenn ihnen am Wochenende wenigstens die Oma noch für ein paar Stunden gehört. Für all die anderen gilt die eine volkswirtschaftliche Pflicht, mehr arbeiten, und auch die andere: mehr shoppen. Der Schutz der Sonntagsruhe, die durch das Bundesverfassungsgericht einstimmig bestätigt wurde, schränkt beides ein. Kein Wunder also, dass die Gewerkschaften den Richterspruch begrüßen, kein Wunder auch, dass einige Länder bereits an Ausnahmeregelungen arbeiten.

Das Urteil setzt sich dem Zeitgeist formal entgegen: Der Sonntag bleibt offziell heilig – und darf zugleich durch weitere Ausnahmen entheiligt werden. Es trägt dem Zeitgeist aber auch Rechnung. Nun ist es den Ländern überlassen, die Öffnungszeiten während der Woche auch bis nach 20 Uhr zu verlängern. Ohne diese Flexibilisierung wäre die alte Sonntagsregelung ein Skandal. Modernes Leben, definiert etwa durch zwei arbeitende Eltern, ist in Deutschland nur mit flexiblen Einkaufszeiten denkbar. Der Schutz des Sonntags vor dem Markt macht nur Sinn, wenn dem Bürger an den restlichen Tagen der Woche möglichst viel Freiraum geboten wird. Wenn man an Wochentagen abends nicht nur Milch kaufen, sondern auch seinen Pass verlängern kann. Gott ruhte schließlich am siebten Tag nur, weil er an den vorangegangenen sechs bereits alles erledigt hatte. Oder andersherum: Wer seine Erledigungen bis zum späten Samstagabend nicht gemacht hat, der macht sie nimmermehr.

Die kulturelle Botschaft des Bundesverfassungsgerichts mag also durchaus lauten: Muße. Das ist für eine Gesellschaft, die vor sich selbst in die Einkaufszentren flüchtet, kein kleines Projekt. Was sollen wir tun, mit all dieser leeren Zeit? Es gibt sonntags schließlich nur ein Autorennen, und bis zum „Tatort“ vergehen unendlich lange Stunden.

Der traditionelle Sonntag, der ein Tag der Unterbrechung war, des Einhaltens, der Distanz auch von der Ökonomie, wird nicht zurückkehren. „Menschen am Sonntag“, ein Film von 1929, für den Billy Wilder das Drehbuch schrieb, beobachtete einen Chauffeur, eine Verkäuferin, einen Vertreter und eine Statistin an ihrem freien Tag. Sie fuhren an den Berliner Wannsee zum Baden. Der Langeweile, die der Sonntag brachte und die so viel Kulturleistung hervorbrachte, der Muße, will sich schon lange keiner mehr stellen. Vermutlich haben auch schon die Römer, Cicero einmal ausgenommen, ihre freie Zeit am liebsten im Kolosseum beim Gladiatorenkampf verbracht.

Die Realität des Sonntags hing von der gesellschaftlichen (und ökonomischen) Struktur ab, von dem prägenden Einfluss der Kirchen etwa, von der Hausmusik spielenden Familie. Aber auch die Lockerung der Sonntagsregelung, für die das Urteil gleichzeitig Spielraum lässt, wird das Abendland nicht untergehen lassen. Der verkaufsoffene Sonntag, das zeigen Länder wie Frankreich oder die USA, erhält sich seine besondere Aura. Dort macht nur auf, wer auch aufmachen will.

Die Zukunft unseres Sonntags hängt in Wahrheit viel mehr davon ab, wie viel Zeit wir uns für die Muße, fürs „otium“ nehmen wollen. Zum Einkaufen muss schließlich nur der gehen, dem sonst nichts Besseres einfällt.

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