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Politik: "Menschen in Berlin": Täter, Opfer, Mitläufer

Im Jahr 1979 gipfelte die Kontroverse um den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 in Fälschungs- und Betrugsvorwürfen gegen einen ehemaligen KZ-Häftling.

Im Jahr 1979 gipfelte die Kontroverse um den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 in Fälschungs- und Betrugsvorwürfen gegen einen ehemaligen KZ-Häftling. Ihm wurde nachgesagt, er habe sich nach Kriegsende Wiedergutmachung für eine von den Nazis konfiszierte Wohnung erschlichen, obwohl er in Berlin gar keinen festen Wohnsitz gehabt habe. Ein 1943 erschienener schmaler Nachtragsband zum Berliner Telefonbuch von 1941, gefunden im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem, lieferte den Gegenbeweis: Dort stand er mit Namen, Beruf, Anschrift und Telefonnummer.

Der Mann, um den es ging, hieß Eduard Calic. Er war 1939 als Korrespondent der Zagreber Zeitung "Novosti" nach Berlin gekommen, hatte bei Professor Emil Dovifat seine von der Gestapo beschlagnahmte Doktorarbeit geschrieben und war schon verhaftet, als der Nachtrag 1943 erschien. Die Jahre bis 1945 musste er im KZ Sachsenhausen verbringen. Seither hat er zahlreiche Artikel und Bücher zur Geschichte des Dritten Reiches geschrieben und lebt heute, 90-jährig, in Salzburg.

Mit solchen biografischen Einzelfällen und deren konkreter Nutzanwendung ließe sich Hartmut Jäckels spannungsreiches Werk über das Berliner Telefonbuch von 1941 / 43 zwangslos fortsetzen. Dem inzwischen emeritierten Politologie-Professor der Freien Universität war ein Exemplar auf dem Flohmarkt in die Hände gefallen. Ihn faszinierten die Namen, die er dort verzeichnet fand, so sehr, dass er daraus ein Buch mit 231 Kurzbiografien machte, von Konrad Adenauer, dem Sohn des ersten Bundeskanzlers, bis Konrad Zuse, dem Pionier des Computerzeitalters. An die 800 weitere Namen von Zeitgenossen sind in diesem Lebensläufen erwähnt.

Bei insgesamt 315 000 Namen, die das Telefonbuch verzeichnet, konnte das nur eine knappe Auswahl sein - doch sie zeigt verblüffende Perspektiven der Ambivalenz einer Diktatur, die insgesamt ja "nur" zwölf Jahre dauerte. Deren Zeitgenossen waren großenteils noch im Kaiserreich geboren worden, und einige von ihnen, zu denen auch Adenauer jr. gehörte, erlebten in hohem Alter sogar noch das wiedervereinigte Deutschland. Doch sind andererseits - nach Jäckels Schätzung - weit mehr als 30 000 der 1941 mit Telefonanschluss Verzeichneten keines natürlichen Todes gestorben: bis 1945 ermordet, gefallen, von Bomben erschlagen, als Opfer des Holocaust deportiert, nach 1945 als Kriegsverbrecher hingerichtet. So ist das Buch ein Personenlexikon des Terrors wie des Widerstands, der "Mitläufer" und der Opfer. Roland Freisler und Wilhelm Keitel stehen alphabetisch eingereiht neben Verschwörern des 20. Juli 1944 wie Paul von Hase, Friedrich Olbricht und Berthold von Stauffenberg.

"Ein Kapitel für sich" nennt Jäckel in seiner knappen, aber instruktiven Einleitung die 1941 an den Zusatz-Vornamen "Israel" und "Sara" erkennbaren über 500 jüdischen Telefonbesitzer. Im Fernsprechbuch 1940 waren noch über 8000 Juden genannt, doch am 29. Juli 1940 wurde ihnen mit wenigen Ausnahmen der Anschluss entzogen. 358 der 1941 Genannten sind Ärzte, die sich "Behandler" nennen mussten, 54 sind Rechtsanwälte, dazu kommen drei Rabbiner und 90 andere "bevorrechtigte" Juden.

Erstaunlich, wer aus der Bonner Prominenz der Nachkriegszeit im Berlin von 1941 lebte: Theodor Heuss und Heinrich Lübke, Kurt Georg Kiesinger und Eugen Gerstenmaier, Adolf Arndt Globke sind neben vielen anderen genannt; aus der späteren "Hauptstadt der DDR" unter anderem der erste Ministerpräsident Otto Grotewohl und Außenminister Dertinger, Manfred von Ardenne, der Dissident Robert Havemann, der Opernchef Walter Felsenstein.

Ein Lexikon tut sich auf mit Namen von Gelehrten wie Friedrich Meinecke und Max Planck, mit als "entartet" diffamierten Künstlern wie Käthe Kollwitz, Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff, mit Schriftstellern wie Gottfried Benn und Erich Kästner, Theologen wie Otto Dibelius und Martin Niemöller. Dass sich ihnen eine Liste ebenso prominenter Berliner Emigranten, Ermordeter, in den Tod Getriebener gegenüberstellen ließe, steht auf einem anderen Blatt.

All dies ergibt ein Buch voller Entdeckungen über ein Telefonbuch, das noch manche von Jäckel unerforschte biografische Abgründe birgt: So findet sich - um an die anfangs erwähnte Reichstagsbrand-Kontroverse anzuknüpfen - der 1933 im Reichstagsbrandprozess freigesprochene KPD-Fraktionsvorsitzende Ernst Torgler (der danach im Verborgenen für die NS-Propaganda arbeitete) hier 1941 als "Vertreter" wieder. Verzeichnet sind auch sein Verteidiger, der ihm auf höhere Weisung zugeordnete Rechtsanwalt Alfons Sack, und der Regierungs- und Kriminalrat Dr. Walter Zirpins, der als erster Vernehmer des im brennenden Reichstag gefassten Marinus van der Lubbe mehr zur Desinformation als zur Aufklärung beitrug.

Auch und gerade nach der Lektüre des Buches von Hartmut Jäckel gilt also: Der Gang ins Geheime Staatsarchiv, zum Original des "Amtlichen Fernsprechbuchs für den Bezirk der Reichspostdirektion Berlin", kann noch immer spannend sein.

Jürgen Schmädeke

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