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Der Grünen-Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht.

© dpa

Rechtspopulismus in Europa: "Merkel und Juncker öffnen die Büchse der Pandora"

Rechtspopulistische Parteien sind in Europa im Aufwind. Der Grünen-Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht wirft Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker vor, den ungarischen Regierungschef Viktor Orban bei der Unterdrückung der Meinungsfreiheit gewähren zu lassen.

Die Europawahlen vor einem Jahr haben für einen Rechtsruck in Europa gesorgt. Wie hat sich die Arbeit im Europaparlament seitdem verändert?

Mit der Europawahl ist die Aufmerksamkeit für die erstarkten Rechtspopulisten deutlich gestiegen. Sie haben Wahlerfolge in Frankreich, Großbritannien und auch in Schweden gehabt. In diesen Ländern gibt es mittlerweile etablierte Kräfte rechtspopulistischer und rechtsradikaler Natur. Unsere Arbeit im Parlament hat das aber nicht groß verändert. Denn weiterhin ist es den rechten Kräften nicht gelungen, sich in eigenen Fraktionen zu formieren. Bisher agieren sie noch relativ unkoordiniert.

Mit welchen Mittel betreiben die Rechtsradikalen denn Politik im EU-Parlament? Worin liegt die größte Gefahr?

Nehmen wir das Beispiel der Dänischen Volkspartei unter Morten Messerschmidt. Sie sitzt gemeinsam mit Parteien wie den britischen Tories in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), eine Abspaltung der Europäischen Volkspartei (EVP). Einflussreiche Rechtsextreme sitzen also in der Mitte des politischen Spektrums und haben einen Einfluss auf die konservative Politik Europas.

Worin sehen Sie die Hauptursachen für das Erstarken der Rechten in Europa?

Die rechten Kräfte finden in der EU einen Sündenbock, gerade bei ungemütlichen Themen wie die Währungs- und Finanzkrise. Statt eine bestimmte Politik in Europa zu kritisieren, schreien die Rechten Brüssel als Akteur nieder. Die europäischen Staats- und Regierungschefs befeuern diesen Zustand dadurch, dass sie es selbst nicht schaffen, eine einheitliche, fortschrittliche und europäische Politik zu gestalten. Weil die Wähler keine bessere Alternative sehen, wählen sie populistische und extremistische Parteien.

In Ihrer Broschüre, die sich mit dem Problem befasst, zählen sie alle rechtsradikalen Parteien nach Ländern auf. Gibt es eine qualitative Abstufung? Welche Abgeordneten sind besonders gefährlich für den Zusammenhalt Europas?

Wir werfen die rechtsradikalen Abgeordneten nicht alle in einen Topf. Aber ein Großteil von ihnen hat Verbindungen zum gewalttätigen Milieu und ist offen antisemitisch. Darüber hinaus haben es die österreichische FPÖ, der belgische Vlaams Belang und der Front National geschafft, sich europäisch zu vernetzen und mit der Europäischen Allianz für Freiheit eine gemeinsame Partei zu gründen. Dadurch können die nationalen rechten Kräfte europäisch agieren und EU-Fördergelder einheimsen. Das ist eine neue und gefährliche Qualität des europäischen Rechtsextremismus.

Gibt es denn einen Trend zu einer verstärkten Vernetzung der Rechtsradikalen, auch im EU-Parlament?

Jederzeit besteht die Gefahr, dass die rechtsradikalen Gruppierungen im EU-Parlament eine verhältnismäßig große Fraktion bilden. Bisher hatten wir das Glück, dass so etwas wegen der großen Widersprüche nicht geklappt hat. Etwa weil polnische, erzkonservative Rechtsradikale, die gegen jegliche Gleichstellung von Frauen und Männern eintraten, das Politikbild des liberalen Rechtspopulisten Geert Wilders nicht akzeptieren konnten. Das kann sich aber schnell ändern.

Wo sehen Sie eine solche Gefahr?

Die Rechte lernt aus ihren Fehlern. 2007 gründete die italienische Abgeordnete Alessandra Mussolini die rechtsradikale Fraktion "Identität, Tradition, Souveränität". Diese fiel aber nach einigen Monaten wieder auseinander, weil Mussolini sich abwertend gegenüber Einwanderern aus Bulgarien und Rumänien geäußert hatte. Neun Abgeordnete kamen aber genau aus diesen Ländern. So einen Fauxpas werden sich die rechten Kräfte nicht noch einmal erlauben. Ähnlich der Schritt von Marine Le Pen, ihren Vater nach antisemitischen Entgleisungen zu suspendieren. Diese Entscheidung steht für die stetige Professionalisierung der rechten Parteien in Europa bei dem Versuch, die menschenfeindlichen Inhalte zu verschleiern.

Wie muss die EU auf diesen Rechtstrend reagieren?

Die demokratischen Parteien müssen sich gegen die menschenverachtenden Inhalte der Parteien stellen und alternative Konzepte entwickeln. Eine Chance ist die Migrationspolitik. Wir müssen klarmachen, dass Asyl ein Menschenrecht ist und dass rechtsradikale und rassistische Parolen keine Lösung sind. Aber das haben die großen Parteien in ganz Europa bisher verpasst – auch weil sie einfach Angst vor den Extremisten und Populisten haben.

Wovor haben die großen Parteien denn Angst?

Wenn rechtspopulistische Gruppierungen Wahlerfolge feiern, dann sorgen sich die großen Parteien nur darum, künftig noch mehr Stimmen und Einfluss zu verlieren. Statt sich offen gegen die fehlerhafte und menschenverachtende Politik dieser Parteien zu stellen, laufen sie ihren Parolen und Themen hinterher. Die Scherben dieses Fehlverhaltens müssen wir heute mühsam zusammenfegen – etwa in den Niederlanden mit Geert Wilders PVV, in Österreich mit Heinz-Christian Straches FPÖ und in Frankreich mit Marine Le Pens Front National. In diesen Ländern haben die Rechtsradikalen davon profitiert, dass die großen Parteien mitgemacht haben beim Schüren von Vorurteilen und Rassismus.

Ähnlich läuft das ja in Ungarn, wo Viktor Orban durch den Druck der radikalen Jobbik-Partei immer weiter nach rechts rückt. Wieso ist die Zustimmung der ungarischen Bürger weiter so hoch? Und wieso hat sich die Geduld der EU-Kommission, der Mehrheit des Europäischen Parlaments oder der Regierungschefs nicht längst erschöpft?

Man muss mittlerweile sagen, dass die Zustimmung für Orbans Politik nicht mehr auf einen demokratischen Meinungsbildungsprozess gründet. Durch eine Zweidrittel-Mehrheit konnte Orban die Verfassung dahingehend verändern, dass Pluralität und faire Meinungsbildung in dem Land praktisch unmöglich wurden. Das sollte ein Alarmsignal für die EU sein, besonders für die Europäische Volkspartei, die Parteifamilie von Orbans Fidesz-Partei.

Die wichtigsten Spieler aus der EVP sind ja derzeit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kommissionschef Jean-Claude Juncker.

Genau. Es ist ein Unding, dass Merkel und Juncker selbst Jahre nach den Verfassungsänderungen noch immer nicht darauf hingewirkt haben, dass Ungarn das Stimmrecht entzogen wird – zumindest so lange, bis die Regierung in Budapest seine Politik den Werten der EU angepasst hat. Merkel und Juncker öffnen mit dieser ängstlichen Haltung die Büchse der Pandora. Die beiden wissen anscheinend nicht, welchen Bärendienst sie der europäischen Einigung und den Interessen der Mitgliedsstaaten erweisen.

Auch der britische Premier David Cameron ist getrieben von einer rechtspopulistischen Partei, der EU-skeptischen Ukip. Die hat im Wahlkampf teilweise mit migrationsfeindlichen Parolen Stimmung gemacht. Sollte die EU auf UK zugehen, wenn es um Reformen geht, etwa bei der Einschränkung des Einwanderungsrechts?

Die ursprüngliche Position der Ukip war das Zündeln mit der Souveränität von London gegenüber gegenüber Brüssel. Jetzt, nach dem schlechten Abschneiden bei den Parlamentswahlen, wird sich die Ukip radikalisieren. Sie wird künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit eine rechtsextreme Politik vertreten. Das hat aber mit der Auseinandersetzung, die Cameron mit den anderen EU-Staats- und Regierungschefs führt, wenig zu tun. Es geht da ja eher um die Frage, welche Rolle das Vereinigte Königreich in der EU spielt. Ich halte es für fehlerhaft, einen Kuhhandel über die Kompetenzen in der EU abzuhalten. Alle Beteiligten müssen jetzt ernsthaft darüber reden, welche EU es für die Zukunft braucht. Erst dann können sie sich überlegen, welche weniger relevanten Fragen regional und national unterschiedlich geregelt werden können.

So eine Debatte schwebt Cameron aber nicht vor.

Richtig. Cameron will wichtige Kompetenzen nach London zurückholen. Diesen Kampf darf die EU nicht verloren geben, sondern muss ihn aufnehmen. Notfalls auch auf Kosten des EU-Austritts Großbritanniens. Dafür ist die Weiterentwicklung der EU zu wichtig. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Mehrheit der Briten ebenfalls einen solchen Fortschritt gehen will und sich die Mehrheit für einen Verbleib in der EU aussprechen wird.

Und wenn nicht?

Dann wäre das eben so. Dann wäre die EU ohne Großbritannien für alle anderen Europäer weiterhin ein wichtiges Instrument der Willensbildung. Wie die Briten über einen EU-Austritt hinwegkommen, das ist mir allerdings schleierhaft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Briten ihren globalen Einfluss auf Wirtschaft und Politik dann noch aufrechterhalten können.

Schauen wir nach Deutschland. Die Alternative für Deutschland (AfD) sitzt mit sieben Abgeordneten im Europaparlament. Angesichts der aktuellen Entwicklungen stellt sich jedoch die Frage: Wird die AfD in der kommenden Auflage Ihrer Broschüre explizit als rechtsradikal aufgeführt oder werden die rechten Strömungen die Partei zerstören?

Die derzeitige Entwicklung in der AfD lässt vermuten, dass sich der rechtsradikale Flügel am Ende durchsetzen wird. Die Partei wird zumindest nicht mehr nur die Anti-Euro-Partei von Chef Bernd Lucke sein können. Ich bin überzeugt, dass die AfD zu einer rechtsradikalen Partei in Europa wird.

Wird eine solche Entwicklung den Erfolg der Partei schmälern?

Man kann nur hoffen, dass die erfolgreichen Zeiten der AfD damit beendet sein werden. Ich sehe klare Anzeichen dafür. Die Frage ist nur, wo sich die rechtsradikale Politik der AfD wiederfinden und welchen Einfluss sie auf die deutsche Politik nehmen wird. Da müssen die demokratischen Parteien stark sein und jegliche menschenverachtende Rhetorik aus der öffentlichen Debatte verbannen.

Jan Philipp Albrecht ist seit 2009 Abgeordneter der Grünen im Europaparlament. Er ist stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO). Die erste Auflage seiner Broschüre "Europa Rechtsaußen. Rechtsextremisten und Rechtspopulisten im Europäischen Parlament" erschien im Frühjahr 2012. Die nun dritte, aktualisierte Version "Europa Rechtsaußen. Die radikale Rechte im Europäischen Parlament nach den Europawahlen 2014" wird am 11. Juni in Hamburg der Öffentlichkeit vorgestellt. Autor der Broschüre ist Tobias Peter.

Erschienen bei EurActiv. Der Tagesspiegel und das europapolitische Onlinemagazin EurActiv kooperieren miteinander.

Dario Sarmadi

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