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Politik: Michail Gorbatschow: Kein Gottkaiser, kein Tyrann

Gelb wogt reifer Weizen, so weit das Auge reicht. Dem Mann, der mitten im Ährenwald sitzt, laufen Tränen über das Gesicht.

Gelb wogt reifer Weizen, so weit das Auge reicht. Dem Mann, der mitten im Ährenwald sitzt, laufen Tränen über das Gesicht. Bilder aus einem Dokumentarfilm, die Michail Gorbatschow im südrussischen Stawropol , seiner Heimat, im Sommer 1999 zeigen. Knapp ein Jahr nach dem Tod von Ehefrau Raissa. Raissa, die ihm alles bedeutete, mehr als seine uneingeschränkte Macht, die ihm seit seiner Wahl zum Generalsekretär der KPdSU 1985 und als erster und letzter Präsident der Sowjetunion bis zu deren Ende im Dezember 1991 zustand. So hatte die Nation Gorbi nie zuvor gesehen.

Doch so wollte sie ihn auch nie sehen. Russland will keinen Menschen als Herrscher, sondern einen, der so ist, wie Iwan Normalverbraucher gern wäre, aber nie sein wird: ein höheres Wesen, halb Christus, halb Tyrann. Erwartungen, die Gorbatschow, der heute 75 wird (in Bremen gibt es am Sonntag einen Festakt mit Ex-Außenminister Genscher), nie befriedigen konnte und auch nicht wollte: Byzantinisches Gottkaisertum und ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie Gorbatschow ihn anstrebte, schließen einander aus.

Von Anfang an fehlte diesem Mann deshalb die Basis, die er brauchte, um zu retten, was noch zu retten war: die Sowjetunion – durch die Hochrüstung und ethnischen Zündstoff ruiniert – und den Sozialismus. Seine Reformen, bewirkten nichts mehr, weil sie um Jahrzehnte zu spät kamen. Sie versetzten dem schon wankenden Imperium den Todesstoß. Denn Perestroika und Glasnost – Umbau der Gesellschaft und Öffentlichkeit – entwickelten bald eine Eigendynamik, die den Wandel des Systems unmöglich machten und zu dessen Wechsel führten. Von Gorbatschow so nicht gewollt und mit katastrophalen Folgen für die Massen, die ihn dafür verantwortlich machten und machen.

Dass Demokratie in Russland von den Massen als negativ besetzter Begriff wahrgenommen wird, lasten hiesige Politikwissenschaftler nicht nur Jelzin sondern auch Gorbatschow an. Nur eine Minderheit hält dagegen. Selten zuvor hat ein Kremlchef Volkes Meinung so polarisiert. Noch seltener klaffte eine solche Lücke zwischen der Wahrnehmung eines Moskauer Spitzenpolitikers daheim und im Ausland. Historiker werden es schwer haben, Gorbatschows Leben als Gesamtkunstwerk objektiv zu würdigen. Unter ihm erlebten bürgerliche Rechte ihren bisherigen Höhepunkt in Russland. Gerade das, halten Kritiker dagegen, habe zu den Verwerfungen in der bis heute tief gespaltenen Gesellschaft geführt. Mit dem Imperium sei auch die für einen multikonfessionellen Vielvölkerstaat einzig mehrheitsfähige nationale Idee gestorben. Andere kreiden seinen Reformen Halbherzigkeit an oder kritisieren seine Zögerlichkeit angesichts der ethnischen Konflikte, die sich während der Götterdämmerung der Perestroika gewaltsam entluden.

Umstritten ist in Russland auch Gorbatschows Außen- und Sicherheitspolitik: der Rückzug aus Afghanistan, vor allem aber seine Kompromissbereitschaft bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit. Der Westen verkennt dabei oft, dass Gorbatschow, der die DDR und die anderen Ostblockstaaten nahezu kampflos „aufgab“, nicht selbstlos handelte. Denn er wollte durch die Preisgabe des äußeren Cordon sanitaire den inneren retten – die nichtrussischen Sowjetrepubliken. Dass sein Entwurf eines Unionsvertrages scheiterte – auch durch einen Putsch von Altkommunisten 1991, bei dem Gorbatschows Rolle bis heute nicht ganz geklärt ist – empfindet er als bitterste Niederlage.

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