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Politik: Ministerpräsident Orban hält den EU-Beitritt für eine Frage des politischen Willens

Heute kommt Kanzler Schröder nach Ungarn, um noch einmal zu sagen: Köszönet - Danke, Ungarn, für die Grenzöffnung. Welche Erwartungen haben Sie an Deutschland?

Heute kommt Kanzler Schröder nach Ungarn, um noch einmal zu sagen: Köszönet - Danke, Ungarn, für die Grenzöffnung. Welche Erwartungen haben Sie an Deutschland?

Dass wir weiter so erfolgreich kooperieren. Deutschland hat uns in den letzten zehn Jahren sehr geholfen, die Schmerzen des Übergangs zur Marktwirtschaft zu bewältigen - auf eine Weise, die beiden Ländern genutzt hat. Wenn wir jetzt noch mutiger auch unangenehme Frage ansprechen, können wir mit Stolz sagen: Nach vielen misslungenen Versuchen der Kooperation vor 1989 wächst am Ende des 20. Jahrhunderts eine Partnerschaft, die Deutschen und Ungarn nutzt und dazu den Interessen Europas dient.

Als die Massenflucht von DDR-Bürgern die Berliner Mauer zum Einsturz brachte, waren Sie 26 Jahre alt. Was fühlten Sie damals?

Die Bilder waren erschütternd - und rührend zugleich. Wir haben uns gefreut, dass wir Ungarn einen Beitrag zum Glück von Tausenden Deutschen leisten konnten. Doch ich gestehe, dass wir auch an uns selbst gedacht haben: Dass der Fall der Berliner Mauer, die deutsche Einheit und die Entfernung der Stacheldrähte auch zu unserer Freiheit führen würden. Solche Momente sind selten, in denen zwei Völker sich gegenseitig so helfen können, dass es beide in der Geschichte einen großen Schritt voranbringt. Wir haben es für unser beider Freiheit getan.

Hat diese Freiheit nicht eine Kehrseite? Es gibt viele Arme im heutigen Ungarn: Rentner, Obdachlose, kinderreiche Familien.

Die Freiheit hat auch Seiten, die man gerne vermeiden würde. Ebenso könnte man einen, der dem Ertrinken knapp entkommen ist, fragen, ob es sich gelohnt hat, wieder an die Oberfläche zu kommen und sich mit den Schwierigkeiten des Lebens auseinander zu setzen, anstatt in aller Stille unterzugehen. Das ungarische Volk hat das Richtige getan, als es sich für die Freiheit entschied - und damit für die Verantwortung, die nun einmal mit der Freiheit verbunden ist. Trotz der Übel ist es allemal besser, in der westlichen Freiheit zu leben mit Demokratie und individuellen Menschen- und Bürgerrechten als in den asiatischen Gesellschaftsstrukturen, die uns vierzig Jahre lang aufgezwungen worden waren. Jetzt haben wir unser Schicksal in den eigenen Händen. Manchmal treffen wir falsche Entscheidungen, nicht alles entwickelt sich wunschgemäß. Aber es ist wenigstens unser selbst gemachtes Schicksal.

Die Entscheidung zur Grenzöffnung hieß: Ungarn war nicht mehr bereit, auf Flüchtlinge zu schießen, sah seinen Platz nicht im Ostblock, sondern im Westen. Sind Sie zufrieden mit dem Stand der Integration?

Zufrieden werde ich erst sein, wenn Ungarn EU-Mitglied ist. Genau wie Ostdeutschland wurden wir gegen unseren Willen aus Europa herausgerissen. Dafür waren die Stacheldrähte aussagekräftige Symbole. Fast wäre es zu spät gewesen. Das ist wie bei einem Menschen, dem man einen Arm abschnürt. Der Blutkreislauf kommt zum Erliegen. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit bis zur Amputation. Über 40 Jahre lang waren wir solche eingeschlafenen Extremitäten am Körper Europas. Wir haben es im letzten Moment geschafft, die uns erdrückenden Fesseln abzustreifen. Hätte es nur einige Jahre länger gedauert, dann wäre es vermutlich nicht mehr möglich gewesen, die Völker Mitteleuropas in den europäischen Kulturkreis zu reintegrieren. Es gelang uns im letzten rettenden Augenblick, die Freiheit zurückzugewinnen. Doch seit 1990 sind wir, wie Polens frühere Regierungschefin Hanna Suchocka treffend gesagt hat, stets fünf Jahre von der EU-Mitgliedschaft entfernt geblieben. Wir anerkennen die Bemühungen Europas, die Völker Mitteleuropas neu einzubinden. Doch unser Beitritt zur Nato ist in hohem Maße den USA zu verdanken. Und er ist früher erfolgt als der zur EU. Es liegt im Interesse Europas, dass diese Phasenverschiebung zwischen Nato und EU baldmöglichst ein Ende hat.

Wann ist Ungarn fähig, der EU beizutreten?

Ungarn ist heute mindestens so gut vorbereitet, wie Spanien, Portugal oder Griechenland es zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme waren. 75 Prozent unseres Aussenhandels gehen bereits in die EU. Obwohl der Beitritt auf sich warten lässt, haben wir es geschafft, unsere Wirtschaft in die europäische einzugliedern. Jetzt müssen wir das Mitspracherecht erlangen bei allen Entscheidungen über das gemeinsame Schicksal. Ungarn wird 2002 zum Beitritt bereit sein. Ich glaube, dass es maßgeblich vom politischen Willen der EU abhängt, wann Ungarn Mitglied werden kann. Diese Entscheidung muss innerhalb der EU heranreifen. Dort ist die Antwort zu finden, weniger in Ungarn.

Behandelt die EU die Beitrittskandidaten richtig oder bemerken Sie Fehler?

Die EU ist ein korrekter Verhandlungspartner. Das heißt aber nicht, dass man uns als gleichrangig behandelt. Ungarn möchte sich einer bereits laufenden Integration anschließen. Wir akzeptieren, dass sich daraus Anpassungspflichen für uns ergeben. Die EU hat uns nichts Unfaires zugemutet. Ich bleibe aber dabei, dass ein positiver Beschluss über die Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns schon Jahre früher möglich gewesen wäre. Nun naht ein schwerer Augenblick, in dem wir besonders auf die Korrektheit der Union angewiesen sein werden. Im September 2000 wird die erste Verhandlungsrunde abgeschlossen sein. Sämtliche Streitfragen werden offen liegen. Dann muss die EU entscheiden, ob sie bereit ist, diese Punkte in einem Paket zusammenzufassen und zu einem schnellen Abschluss zu kommen. In dieser Zeit wird Frankreich die EU-Präsidentschaft innehaben. Damit wird also die deutsch-französische Kooperation auf eine Probe gestellt.

Sie erwarten, dass Deutschland Druck auf Frankreich ausübt, weil dort der Widerstand größer ist?

Den Ausdruck "Druck ausüben" benutze ich nicht. In dieser Phase wird es aber darauf ankommen, dass die Länder, die stets für die Erweiterung waren, darunter Deutschland, ihre Vorstellungen mit der nötigen Entschlossenheit formulieren.

Neben dem Kosovo gibt es noch eine zweite zu Serbien zählende Provinz, die Vojvodina. Dort lebt eine große ungarische Minderheit. Kann es auch dort zum Krieg kommen?

Ohne die Nato-Beistandsgarantie war das Risiko weit größer, dass der jugoslawische Diktator Milosevic sich durch weitere ethnische Säuberungen zu retten versucht, diesmal gegen Ungarn in der Vojvodina. Und dass der Krieg auch Ungarn erreicht. Doch jetzt schreckt ihn unsere Mitgliedschaft ab.

Sie haben mehrfach kritisiert, die westliche Politik verstehe zu wenig von Osteuropa, von Russland, vom Balkan. Was sind die gravierendsten Missverständnisse und Fehler?

Ich maße mir nicht an, die westlichen Regierungen zu kritisieren. Wir wollen jedoch mitreden über unser gemeinsames Schicksal. Es ist eine natürliche Sache, dass Ungarn mehr weiß über die Angelegenheiten in Mitteleuropa - ebenso wie Deutsche und Franzosen am meisten von den deutsch-französischen Beziehungen verstehen und Briten und Iren von den Verhältnissen in Nordirland. Wir leben am Tor zum Balkan. Die Nato hat mit Ungarns Beitritt auch zusätzliche Kenntnisse aufgenommen, die Bedeutung haben für Europas Sicherheit. Das ist unsere Mitgift. Viele Denkweisen, die in Westeuropa ihre Berechtigung haben, müssen in einem kulturell und politisch andersartigen Raum wie dem Balkan nicht zwangsläufig ebenfalls richtig sein.

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