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Politik: Missbrauchter Glaube

Von Gerd Appenzeller

Wir hatten verdrängt, vielleicht auch vergessen, wohl auch nicht wissen wollen, dass es wieder geschehen würde. Irgendwo in einer westlichen Großstadt, in einem Urlaubsort am Mittelmeer oder in Südostasien, in einem Zug oder Flugzeug, auf einem Platz, mitten in einer Menschenansammlung. Nun also London. Nach New York am 11. September 2001, dem Anschlag auf Djerba im April, auf Bali im Oktober 2002, in Madrid im März 2004 haben islamistische Terroristen jetzt in der britischen Hauptstadt ein Blutbad angerichtet.

Die „KreuzfahrerStaaten“ wollen sie treffen, teilen sie Europa über das Internet mit. Wen sie wirklich getroffen haben, hat der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone, den Tränen nahe, unter Schock stehend und dennoch erschütternd klar und nüchtern gesagt: Das war kein Anschlag gegen die Großen und Mächtigen, sondern gegen alle Menschen, gegen Hindus und Moslems und Juden und Christen. Ein wahlloses Abschlachten, um die Überlebenden in ihrer Verzweiflung und Suche nach Schuldigen und Hintermännern gegeneinander aufzuhetzen; um die Fundamente der freien Gesellschaften des Westens zu zerstören. Denn diese Gesellschaften basieren auf der Bereitschaft der verschiedenen Ethnien und Religionen, in Toleranz mit- oder doch zumindest nebeneinander zu leben. Das gelingt oft nur unvollkommen. Aber selbst da, wo es mit Problemen behaftet ist, funktioniert es noch allemal weit besser als jene Staatssysteme des religiösen Fanatismus, wie das Afghanistan der Taliban eines war.

Die Großen und die Mächtigen. Natürlich hat Al Qaida die Anschläge gezielt während des G-8-Gipfels im schottischen Gleneagles verübt, aus rein taktischen, aber auch aus strategischen Gründen. Zum Schutz der Gipfelteilnehmer waren Tausende von Polizisten weit entfernt von der Hauptstadt zusammengezogen, dort selbst mithin die Polizeipräsenz geringer als sonst. Und natürlich wendete sich die Aufmerksamkeit der ganzen Welt sofort auf den Ort der Anschläge, weil die wichtigsten Politiker der industrialisierten Welt im davon betroffenen Land tagten. Tony Blair hat auf den Zynismus der Täter hingewiesen: Der Anschlag richtete sich symbolisch gegen einen Gipfel, bei dem es nicht etwa um die egoistische Selbstreflexion reicher Staaten geht, sondern um Hilfe für einen leidgeschüttelten Kontinent, um Afrika und Schuldenerlass, um den Kampf gegen Hunger und Elend. Aber Al Qaida wollte natürlich auch die weltumspannende Wirtschaftskraft treffen, für die das Kürzel G8 ebenfalls steht.

Hass macht blind, blind gegen Argumente und Rationalität, blind gegen das angerichtete Leid. Aber Hass ist eine furchtbare Triebfeder der Zerstörung, wie wir gestern in London wieder gesehen haben. Deshalb hilft gegen Terrornetzwerke wie Al Qaida nur eine konsequente, internationale und solidarische Bekämpfung. Dabei wird es auch künftig immer wieder Rückschläge geben wie jetzt in London. Die Bedrohung ist ja asymmetrisch zu den Möglichkeiten, die Gefahr einzugrenzen. Wenige zu allem entschlossene Menschen können das Leben von offenen Millionenstädten vorübergehend lahm legen. Der Kampf gegen den Terror darf aber das Wichtigere nur flankieren und nicht ersetzen oder verdrängen. Dieses wichtigere Element ist der fortdauernde Dialog mit all jenen islamischen Staaten, die mit islamistischem Fanatismus gleichzusetzen ein großer Fehler wäre.

In Deutschland wird vermutlich im September gewählt. Gestern wurde deshalb auch die Frage gestellt, ob dieser neue Ausbruch des Terrors den amtierenden Bundeskanzler aufgrund der ihm zugemessenen größeren Kompetenz in Konfliktsituationen gegenüber Angela Merkel stärken könne. Diese Frage darf man stellen. Aber nicht heute, nicht jetzt. Im Moment geht es nur um Trauer und Mitgefühl mit den Menschen einer Stadt, die von einem Tag auf den anderen von höchstem Jubel über die Vergabe der Olympischen Spiele in tiefste Sorge gestürzt wurden.

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