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Ein Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens.

© Fadel Senna/AFP

Münchener Sicherheitskonferenz: Warum die Kriege nicht mehr enden

Konflikte waren einst räumlich wie zeitlich begrenzt. Fünf Gründe, warum sie heute nach anderen Regeln funktionieren. Ein Gastbeitrag.

In der europäischen Geschichte gilt das 19. Jahrhundert als Ära des Friedens. Die Zeit zwischen Wiener Kongress und Erstem Weltkrieg ist das jedoch nur bedingt gewesen. Eine ganze Reihe von Kriegen fand damals in Europa statt, etwa der Krimkrieg oder die italienischen und die deutschen Einigungskriege. Es waren räumlich wie zeitlich begrenzte Kriege, die oft mit einer Entscheidungsschlacht endeten. Danach wurde Frieden geschlossen. Fast immer dauerte der Krieg nur wenige Monate. Er griff nicht in die Ordnung der Gesellschaft ein, sondern blieb auf das Verschieben politischer Grenzen beschränkt. Räumlich-zeitlich begrenzte und rechtlich regulierte Kriege können sich offenbar mit der Vorstellung vom langen Frieden verbinden.

Das ist anders, sobald Kriege lange dauern, nicht lokalisiert werden können und auch nicht nach den Direktiven einer Niederwerfungsstrategie zu führen sind, sondern zum Erschöpfungskrieg werden. Das war so im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) und dann erneut in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. An deren Ende kam man zu dem Ergebnis, man müsse den Krieg aus dem Werkzeugkasten der Politik streichen. 1648 und 1815, im Westfälischen Frieden und auf dem Wiener Kongress, hatte man sich noch damit zufrieden gegeben, den Krieg zu regulieren, indem man sich um seine räumliche wie zeitliche Begrenztheit sorgte.

Das Mittel dazu war das staatliche Monopol auf das Recht zum Krieg. Man überantwortete den Krieg der Vernunft der Regierenden, darauf vertrauend, dass sie damit zurückhaltend und dem Kosten-Nutzen-Kalkül gemäß umgehen würden.

Die Vereinten Nationen sind zu schwach

Dieses Vertrauen gab es 1918 und 1945 nicht mehr. Jetzt wollte man den Krieg überhaupt zum Verschwinden bringen. Dazu brauchte man indes eine Macht, die dafür sorgte, dass jene, die dem Kriegsverbot zuwider handelten, daraus keinen Nutzen zogen. Doch weder der Völkerbund noch die Vereinten Nationen entwickelten sich zu einer solchen Kraft. Und die großen Mächte gingen gegen Friedensbrecher nur dann vor, wenn dies in ihrem unmittelbaren Interesse lag. Daraus hat auch die vor einigen Jahren ins Spiel gebrachte „responsibility to protect“ nichts geändert: In der Regel findet sich keiner, der die geforderte Beendigung des Kriegs durchzusetzen bereit oder in der Lage ist. Man begnügt sich mit Forderungen an die Kriegsparteien, denen die jedoch keine Folge leisten.

Aber warum greift dann nicht jene Kalkülrationalität, die dem früheren Kriegsbegrenzungsregime zugrunde lag und zumeist dafür sorgte, dass Kriege beendet wurden, wenn der nachvollziehbare Nutzen den prospektiven Schaden überstieg? Immerhin haben wir es in einigen Weltregionen mit Kriegen zu tun, bei denen der Schaden den Nutzen weit übertrifft: etwa in dem seit vier Jahrzehnten andauernden Krieg am Horn von Afrika, in den Kriegen in und um Afghanistan sowie in den Kriegen, die sich nach dem „arabischen Frühling“ entwickelt haben.

Diese Konflikte sind alle dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht oder nur randständig um Staatenkriege, sondern wesentlich um Bürgerkriege handelt, die nach anderen Rationalitäten ausgetragen werden. Folgen letztere instrumentellen Vorgaben, so haben erstere eine existenzielle Dimension, die jeden Kompromiss unmöglich macht. Friedensschlüsse aber beruhen seit jeher auf Kompromissen, selbst dann, wenn es klare Sieger und Verlierer gibt. Wo das nicht der Fall ist, erweist sich der Friedensschluss nur als Waffenstillstand.

Die Grenze zwischen Staaten- und Bürgerkrieg ist aufgehoben

Das ist die zweite Antwort auf die Frage, warum heutige Kriege nicht mehr enden: Das mit der Westfälischen Ordnung nach 1648 entwickelte Regime der Binarität, das eine scharfe Grenze zwischen Staatenkrieg und Bürgerkrieg zog, funktioniert nicht mehr. Immer häufiger fließen beide Typen des Kriegs ineinander. Sie beginnen als Bürgerkriege, aber schon bald spielen die Staaten ihrer Umgebung darin eine gewichtige Rolle. So entstehen transnationale Kriege, in denen innergesellschaftliche und zwischenstaatliche Konflikte miteinander vermischt sind. Sie sind derart komplex, dass sie durch einfache Friedensschlüsse nicht mehr beendet werden können; es bedarf lange währender Friedensprozesse.

Seit dem Ende einer klaren Trennung zwischen Staaten- und Bürgerkrieg sind die geschlossenen durch offene Kriegsökonomien abgelöst worden. In einer geschlossenen Kriegsökonomie stehen den Parteien nur die Ressourcen innerhalb des von ihnen beherrschten Raums zur Verfügung. Wenn sie zu Ende gehen, geht auch der Krieg zu Ende. Clausewitz hat das als „Erlöschen der Vulkane“ bezeichnet. Bei offenen Kriegsökonomien strömen permanent von außen Gelder und Waffen, Hilfsgüter und Kämpfer in das Kriegsgebiet ein. Im Zeitalter globaler Schattenkanäle sind Waffenembargos wenig Erfolg beschieden.

Das war bereits in den Stellvertreterkriegen des Ost-West-Konflikts so, hat aber seit dessen Ende noch an Umfang gewonnen. Inzwischen haben sich die äußeren Unterstützer nämlich diversifiziert. Dementsprechend treten mehr Akteure als äußere Unterstützungsmächte auf. Parallel dazu hat sich auch die Zahl der Bürgerkriegsparteien vermehrt. Das ist die dritte Antwort.

Krieg als ökonomische Ressource

Der vermutlich wichtigste Grund für die lange Dauer der neuen Kriege ist indes darin zu suchen, dass es in ihnen eine Reihe von Akteuren gibt, die „vom Kriege leben“, die die Gewalt also aus einem politischen Instrument in eine ökonomische Ressource verwandelt haben. Sie haben deswegen kein Interesse an der Beendigung des Kriegs – die Warlords nicht, weil ihnen die Möglichkeit zur Akkumulation großen Reichtums entzogen würde, und deren Gefolgsleute nicht, weil sie in die soziale Marginalität zurückfallen würden.

Das Vertrackte daran ist, dass die Rückkehr in ein friedliches Leben umso schwerer wird, je länger ein Krieg dauert. Ist erst einmal eine ganze Generation herangewachsen, die nichts kennengelernt hat als einen solchen vor sich hin schwelenden Krieg und die nichts gelernt hat, als in diesem Krieg durch Gewaltakte zu überleben, so ist es nahezu unmöglich geworden, einen solchen Krieg durch einen Friedensschluss zu beenden. Das ist die vierte Antwort.

Was in der analytischen Rekonstruktion durch den entfernten Beobachter voneinander getrennt werden kann, findet sich im realen Geschehen häufig durchmischt; auch sind nicht immer sämtliche hier aufgeführten Faktoren zu finden. In manchen Fällen spielt einer kaum eine Rolle, während ein anderer eine ganz besondere Bedeutung hat. Zudem ist die Zusammensetzung der Faktoren permanenter Veränderung unterworfen.

Neue Kriege haben ein hohes Niveau an Grausamkeit

Waren die klassischen Kriege dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen Ordnungsvorstellungen zum Regelwerk der Kriegsführung wurden (was nicht heißt, dass die Kriegsparteien sich immer daran gehalten hätten), so sind die neuen Kriege dadurch gekennzeichnet, dass sie regellos geführt werden, was ein hohes Niveau an Grausamkeit zur Folge hat. Daraus erwachsen Rache und Gegenrache, die nicht durch die Rechtsentscheidung eines neutralen Dritten beendet werden können.

Diesen Dritten gibt es in Bürgerkriegen nicht. Die erlittene Gewalt muss noch zurückgezahlt, die zugefügte Demütigung gerächt werden, bevor man mit den Verhandlungen über das Ende der Gewalt beginnen kann. So gibt es immer einen, der noch eine Rechnung zu begleichen hat, woraus dann neue offene Rechnungen resultieren. Das ist der fünfte Grund, warum die gegenwärtigen Kriege nicht von selbst enden und sich kaum beenden lassen.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Der Text ist in der aktuellen „The Security Times“ erschienen.

Herfried Münkler

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